Ein pädagogisches Intermezzo
Text: Holger Finke, Rudolf Steiner Schule Wien-Mauer, Zentrum für Kultur und Pädagogik, Wien. An-Institut der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft, Alfter
Diese Wegweiser-Ausgabe widmet sich dem Thema Übergänge. Wir assoziieren sofort: Es geht um den Wechsel von hier nach dort, von einem Zustand zum nächsten. Natürlich trifft diese Assoziation zu, doch erlaubt das Wort Übergang, nimmt man es ganz wörtlich, noch eine spezielle Blicklenkung: Übergang könnte doch bedeuten, es geht etwas über im Sinne von „es läuft etwas über“, ganz so, wie es in alten Wendungen noch anklingt. Man denke nur an Goethes Der König in Thule.
Es ging ihm nichts darüber,
Er leert’ ihn jeden Schmaus;
Die Augen gingen ihm über,
So oft er trank daraus.
Verweilt man bei diesem Akzent der Wortbedeutung, so tritt eine besondere Voraussetzung dafür in Erscheinung, wann Übergang stattfindet: nämlich dann, wenn etwas voll ist, den Inhalt nicht mehr fassen und halten kann! Von diesem Bild ist es nur ein kleiner Schritt zu Rilkes berühmten Gedicht, in welchem er einen römischen Brunnen sprechen lässt.
Römische Fontäne
Borghese
Zwei Becken, eins das andre übersteigend
aus einem alten runden Marmorrand,
und aus dem oberen Wasser leis sich neigend
zum Wasser, welches unten wartend stand,
dem leise redenden entgegenschweigend
und heimlich, gleichsam in der hohlen Hand,
ihm Himmel hinter Grün und Dunkel zeigend
wie einen unbekannten Gegenstand;
sich selber ruhig in der schönen Schale
verbreitend ohne Heimweh, Kreis aus Kreis,
nur manchmal träumerisch und tropfenweis
sich niederlassend an den Moosbehängen
zum letzten Spiegel, der sein Becken leis
von unten lächeln macht mit Übergängen.
Vom richtigen Zeitpunkt
Aus einem Bassin, dem alten runden Marmorrand, steigen zwei Becken in die Höhe als Herbergen des Wassers, das sie füllt. Erst, wenn der Zeitpunkt der Erfüllung, im wahrsten Sinne des Wortes, gekommen ist, löst sich das Wasser aus seiner heimatgebenden Schale und strebt ohne Heimweh der nächsten zu. Dieses dann sind die Übergänge, von denen der Dichter in der letzten Zeile spricht – Übergänge, die ganz im Einklang mit dem Vorgang selber stehen, die weder beschleunigt noch verzögert werden und darum der tiefsten Schale als Zeichen des Beifalls ein Lächeln abringen.
Betrachten ließen sich mannigfaltige Übergänge, solche in der Natur, in der Biografie eines Menschen, kurzum in allem, was Prozesscharakter hat. Zu letzterem zählen auch Unterrichtssituationen. Auf diese soll nun das Augenmerk gerichtet werden.
Bekannt ist, dass die Waldorfpädagogik mit dem Mittel des Rhythmus arbeitet, das heißt, mit wiederkehrenden Sequenzen, die sich auf das Jahr, eine Unterrichtsepoche oder auch eine einzelne Unterrichtsstunde beziehen. Sequenzen sind mit Übergängen verbunden. Der Lehrer ist der Prozessgestalter und somit für das Gelingen der Übergänge verantwortlich. Rilkes Gedicht zeigt uns, wann ein Übergang gelingt: Ein Becken muss voll sein, dann erst kommt das nächste ins Spiel. Ein Übergang darf nicht zu früh eingeleitet werden, denn die Schüler sind noch nicht reif für den Wechsel. Ein verfrühter Übergang kann nur als Störung empfunden und die Leere des nächsten Beckens nicht gewürdigt werden. Ein Übergang darf nicht zu spät eingeleitet werden. In diesem Fall haben sich die Schüler längst selbst den Übergang verschafft. Je nach Temperament schlafen sie oder tragen zur Erzeugung eines aussagekräftigen Geräuschpegels bei. Es ist, als würde man das Wasser künstlich stauen und sich dann wundern, wenn die Staumauer bricht.
Das Wasser weiß selbst am besten, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Unterrichtskunst in diesem Zusammenhang heißt, das Wasser fließen lassen, wann es will, heißt, auf Rhythmus bauen, aber sich einem starren Metrum verweigern. Das bisher Gesagte galt dem Zeitpunkt des Übergangs.
Formen des Übergangs
Jetzt soll von der Form des Übergangs die Rede sein. Rilke führt uns drei Spielarten vor Augen: Genauso wie die Wassertropfen leise von der zweiten Schale in die dritte gleiten, fließt das dritte Terzett sanft und stufenlos in das vierte. Zwischen dem ersten und zweiten Quartett hingegen ist eine kleine Stufe zu bemerken. Größer und unter deutlicher Grenzziehung fällt die Stufe zwischen dem zweiten Quartett und dem ersten Terzett aus. Mithin erleben wir einen semi-kontinuierlichen, einen diskontinuierlichen und einen voll-kontinuierlichen Übergang. Dem Lehrer kann dies als Quelle der Inspiration bei der Gestaltung seiner Übergänge im Unterricht dienen.
Nachdem über Zeitpunkt und Form des Übergangs gesprochen wurde, soll abschließend die Perspektive zur Sprache kommen, aus welcher der Übergang gesehen und erlebt wird. Dichter gelten als weltfremd. Auch Rilke wird ein Sonderling gewesen sein. Aber gerade diese Randstellung ist es, die sie Dinge anders und oft tiefer sehen lassen. So vermögen sie ihren Zeitgenossen und der Nachwelt Signale über sonst Unbeachtetes zu senden. Mit seiner Römischen Fontäne gibt Rilke eine Probe der Kunst, nicht aus der Distanz über etwas zu reden, sondern aus dem Eins-werden mit den Dingen heraus zu sprechen. Das Gedicht schildert nicht aus der Perspektive eines außenstehenden Betrachters, sondern aus der Perspektive des fließenden Wassers. Wir erleben das Aufgehen in der Bewegung selbst. Prozesse können von der Fähigkeit ihrer Teilnehmer profitieren, bewusst die Perspektive der Wahrnehmung zu wechseln. In unserer Zeit herrscht das Betrachten von außen vor, was einer rationalen Bewusstseinsstruktur entspricht. In älteren Zeiten wurden die Dinge als beseelt angesehen, was einer magisch-mythischen Bewusstseinsstruktur entspricht und eine Sogkraft zum Eins-werden mit den Dingen erzeugt.
Mitte des 20. Jahrhunderts arbeiteten Bewusstseinsforscher wie Jean Gebser einen anthropologischen Entwurf aus, wonach frühere Bewusstseinsstrukturen, etwa die magisch-mythische, im Hintergrund des Individuums weiterleben. Ein holistischer Blick auf den Menschen wird den verschiedenen Strukturen ihre Existenz gönnen, ja mehr noch, er wird danach streben, sie in ein fruchtbares Wechselspiel zu bringen. Unterricht sollte demnach Übergänge vorsehen zwischen rationalen Elementen und jenen anderen in der Überzeugung, dass dadurch die im Menschen eingeschlossenen Ressourcen ihren Reichtum entfalten.