Was uns Märchen über das Vertrauen  erzählen

Mit Sicherheit können wir darauf vertrauen, dass nach einem kalten, dunklen und feuchten Winter die Sonne am 21. März auf ihrer Jahresbahn in aufsteigender Richtung den Himmelsäquator schneiden und dann genau im Osten aufgehen wird. Die Tage werden länger und das Leben in der Natur erwacht. Dem Jahreskreislauf können wir vertrauen, er lässt uns nicht im Stich.

Vertrauen ist auch ein wesentlicher Faktor und eine Bedingung, die menschliches  Gemeinschaftsleben möglich macht. Ohne Vertrauen wird unsere Zivilisation nicht weiterkommen. Wir bauen zwar auf das Glück des Vertrauens, kennen aber auch die Leiden und den Schmerz des Misstrauens. Wir machen die Erfahrung, dass wir unseren Mitmenschen nicht immer Vertrauen können. Vertrauen in sich selbst, in den Mitmenschen und in das Schicksal zu haben, gehört zur schwersten, aber auch zur höchsten Errungenschaft der Menschenseele.

Dabei ist es uns in die Wiege gelegt worden. Ein Blick in die Augen eines kleinen Kindes zeigt uns diese Unbefangenheit, Offenheit, dieses  Urvertrauen in die es umgebende Welt. Das nimmt mit den Jahren ab. Soll das Vertrauen nicht verlorengehen, müssen die Erwachsenen die Verantwortung für dessen Erhalt und Förderung übernehmen. Wenn die Bemühungen der Erzieher Erfolg haben, kann das Vertrauen zu neuer Kraft in den Idealen der Pubertierenden erwachen und so zu innerer Stärke, die auch Schicksalsschlägen trotzt, verhelfen.

Wie kann ich dieses Urvertrauen in der Erziehung der Kinder pflegen und fördern? Eines der Mittel ist das Märchenerzählen. Das Märchen spielt nicht in der sinnlich erfahrbaren Welt, es spielt im Königreich der Seele. Alle handelnden Figuren sind Aspekte von uns selbst. Wir haben den Helden, die Heldin, aber auch die Widersacher – den Wolf, die falsche Braut, die Hexe, die Stiefmutter – in uns.

Im Märchen wird uns keine heile Welt geschildert. Es wird uns gezeigt, welche Qualitäten  uns zum Ziel führen und welche nicht. Mit Sicherheit können wir darauf vertrauen, dass die Helden und Heldinnen im Märchen ihre Ziele erreichen und die schweren Prüfungen bewältigen, die ihnen auferlegt werden. Das ist das Besondere am Märchen.

Was zeichnet die Heldin – das Bild für die Seele – aus?  Die Goldmarie in „Frau Holle“ ist fleißig und hilfsbereit.  Sie spinnt, bis ihr die Finger blutig werden. Beim Spinnen wird aus lockerer, weicher Wolle ein fester Faden, eine Verdichtung, wie wir sie auch in unseren Gedanken herbeiführen, wenn wir konzentriert denken. Erkenntnis wird aus Gedankenfäden gesponnen. Aschenputtel ist gut und fromm, sie betet täglich am Grab ihrer Mutter und nimmt ihr Schicksal ohne zu klagen an. Sie kann mit Hilfe der Tauben Linsen aus der Asche lesen, die guten Körner von den schlechten trennen, das Tote vom Lebendigen unterscheiden. Die jüngste Tochter des Holzhackers in“ Das Waldhaus“ ist erfüllt von Zuwendung und Sorge an die sie umgebenden Menschen und Tiere, selbstlos und aufopfernd. Alle drei sind bescheiden, fleißig achtsam und demütig. Sie machen das richtige zur rechten Zeit.

Was zeichnet die Helden – das Bild für das Ich – aus? Sie sind furchtlos, tapfer wie in „Der.Königsohn, der sich vor nichts fürchtet“ oder in „Das Eselein“ und ziehen in die Welt hinaus. Sie haben ein gutes Herz und schützen Tiere vor Gewalt wie in „Die Bienenkönigin“. Sie teilen ihr karges Mahl mit einem grauen Männlein wie in „Die goldene Gans“. Sie sind zu jedem Opfer bereit und erfüllt von Sehnsucht nach der Königstochter vom goldenen Schloss (Bild für die Weisheit),  wie in „Der treue Johannes“. Sie sind mutig, willensstark, voll Zuversicht und Ehrfurcht.

Heldinnen und Helden haben eines gemeinsam: Unbefangenheit, Gelassenheit und  Herzenskräfte, die sie aus einem ganz selbstverständlichen Vertrauen in ihre Umgebung entfalten. Sie sind auf dem Weg zur Vollkommenheit vielen Prüfungen ausgesetzt. So schwer diese auch sein mögen, sie bewältigen die Aufgaben häufig mit der Hilfe von Tieren oder geheimnisvollen Wesen, denen sie selbst einmal Beistand geleistet haben. Am Ende findet häufig die Hochzeit vom Königssohn und der Prinzessin statt. Die durch Prüfungen geläuterte Ichkraft und die reine Seele, finden sich – das Ziel der Heldinnen und Helden im Märchen und der Entwicklung des Menschen.

Dieses Ziel wird aus den Qualitäten der Heldinnen und Helden geschmiedet und leuchtet als Urvertrauen in den Augen der kleinen Kinder auf, die eine Ahnung davon aus dem Vorgeburtlichen mitbringen.

Aber welche Kräfte sind es, die Misstrauen hervorrufen, verunsichern, verdunkeln, verzaubern? Es sind jene Figuren im Märchen, die der materiellen, irdischen Welt angehören bis zu den in den Tiefen liegenden bösen Mächten, die den Heldinnen und Helden Prüfungen auferlegen oder überwunden werden wollen. Der Wolf, die Stiefmutter, die Hexe, die falsche Braut – Bilder für Gier, Neid und Eifersucht. Mit Vertrauen auf uns selbst und das Schicksal lernen wir sie zu durchschauen und zu überwinden. Das ist nicht immer leicht. Wie es gelingen kann, davon erzählen uns die Märchen.

Christa Horvat

„Erzähl mir ein Märchen“ von Christa Horvat (BoD)

„Mysterienweisheit im deutschen Volksmärchen“ Arthur Schult (Turm-Verlag)

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