Wahrheit Schönheit Güte

Text: Wolfgang Schaffer

Wo Schönheit wirkt, sind Gesetze gültig. Die neue Schöpfung prägt durch Kunst Natur in Schönheit um.

Wahrheit verbindet

Es gibt im Leben bestimmte Grundlagen, die so allgemein und selbstverständlich vorausgesetzt werden, dass sie im Normalfall gar nicht vollbewusst in Erscheinung treten. Wir gehen zum Beispiel grundsätzlich davon aus, dass sich Menschen im Umgang mit sich selbst und ihren Mitmenschen um die Erkenntnis von Wahrheit bemühen. Dieses Streben nach Wahrheit zeigt sich in der konsequenten Bereitschaft, wahrnehmbare Phänomene ganz ihrer spezifischen Eigenart entsprechend gelten zu lassen. Nur in dieser ganz unvermittelt auftretenden Form können sich mehrere Menschen bei regelmäßig ausgebildeten Sinnesorganen über offensichtliche Tatsachen restlos einig sein. Umgangssprachlich kommt dabei das kleine Wörtchen «es» zum Tragen. Beim großflächigen Aufprall vieler kleiner Wassertropfen auf der Erdoberfläche ist man sich zum Beispiel spontan darüber einig, dass «es» regnet. Diese objektive Anerkennung wahrnehmbarer Phänomene gilt auch ganz besonders streng für Regelmäßigkeiten, die sich an dem Vollzug von Denkvorgängen in der Mathematik rein bewusstseinsmäßig beobachten lassen. Ein berühmtes Beispiel ist die Rechengleichung 2+2=4. Unter der Voraussetzung, dass die den Zählvorgängen zur Ermittlung der Zahlenmengen «zwei» und «vier» zugrundeliegende Maßeinheit unverändert bleibt, kann die Gleichung nur bejaht werden. Wenn nun jemand die Behauptung aufstellen würde, 2+2=5 oder 2+2=3 wäre «es» sicher nicht wahr. Wenn diese Behauptung irrtümlich aufgestellt wurde, kann man von einem Fehler sprechen. Wenn sie unter vollem Bewusstsein der Fehlerhaftigkeit ausgesprochen wurde, liegt Lüge vor. Dass die Wahrheit im Vergleich zu Irrtum oder Lüge auch Schönheit in sich birgt, ist an den Folgen erkennbar, die das Bekenntnis zu Wahrheit mit sich bringt. Nur durch die Wahrheit untereinander kann sich dauerhaftes Vertrauen, Frieden und gedeihliche Zusammenarbeit unter den Menschen entwickeln. Das Leben in solcher Gemeinschaft wird dann für alle Beteiligten auch als ein Leben in Schönheit empfunden.

Es gibt aber Bedingungen, unter denen die Gleichung 2+2=3 doch als Wahrheit gelten könnte. Man bräuchte sich nur darauf zu einigen, die Zahlenmenge, die bisher mit dem Wort «vier» beziffert wurde, nun mit dem Ausdruck «drei» zu benennen. Das hätte zur Folge, den bisherigen Platz «drei» innerhalb der Zahlenreihe als «vier» zu bezeichnen oder auch ganz neu zu benennen. Ohne diesen Schritt wäre die Eindeutigkeit der Zahlenfolge nicht mehr gegeben. Unsere Zählweise würde sich dann aus der bekannten Wahl einer Maßeinheit «eins» unter Hinzufügung jeweils einer weiteren Einheit «eins» mit den jetzt vertauschten Mengenbezeichnungen: eins – zwei – vier – drei…. ergeben. Zwei und zwei wäre dann tatsächlich drei. 2+2=3.  Solche begrifflichen und sprachlichen Zuordnungen im Sinne einer Änderung der Benennung sind jederzeit möglich. Der Ausdruck «Gesundheit» könnte zum Beispiel durch das Wort «Kranklosigkeit» ersetzt werden. «Meine Kranklosigkeit wird immer schwächer» würde dann bedeuten, dass man sich nicht mehr so gesund fühlt. Die in dieser Aussage verborgene Wahrheit muss man sich allerdings durch entsprechendes Umdenken der gewohnten Begriffsbedeutungen erst aktiv erschließen. Recht einfach lässt sich auf diesem Weg bei entsprechendem Einsatz von kontinuierlichen Begleitmaßnahmen eine neue Normalität erzeugen. Solange man all das restlos durchschaut, kann auch ein solches Geschehen als Wahrheit gelten.

Der Schönheit Geheimnis

Das Empfinden von Schönheit ist durchaus mit der Einsicht in die Wahrheit eines Sachverhaltes, einer Situation oder einer Wesenheit verbunden. «Das Schöne ist» einer Maxime Johann Wolfgang von Goethes zufolge «eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die uns ohne dessen Erscheinung ewig wären verborgen geblieben.» In diesem Sinne können wir an der Schönheit in der uns umgebenden Welt etwas empfinden lernen, das uns erkenntnismäßig noch nicht zugänglich ist. Das farbenreiche Erstrahlen eines Regenbogens vor dem düsteren Gewitterhimmel zum Beispiel wird von vielen Menschen als ein Urbild von Schönheit in der äußeren Natur empfunden. Dem ehrfurchtsvollen Staunen einer kindhaften Seele diesem «Wahrzeichen Gottes» gegenüber ist der naturgesetzliche Zusammenhang oft nicht bekannt und auch nicht wichtig. Die Empfindung von Schönheit weckt eine Ahnung von der eigentlichen Heimat des Menschen in einer himmlischen Welt. Man kann vielleicht sogar sagen, dass die Tiefe des Geheimnisses der Intensität der darin verborgenen Schönheit entspricht. Umgekehrt nimmt die Empfindung von Schönheit mit dem Grad an rein sachlicher Erkenntnis gewöhnlich ab. Dazu betrifft ein anderes Naturgesetz zum Beispiel den Zusammenhang von Materie und Energie. Den Erkenntnissen der Relativitätstheorie zufolge sind Materie und Energie wesensgleich und nur durch den Grad an Geschwindigkeit voneinander zu unterscheiden. Da dieser Trennungsfaktor als Lichtgeschwindigkeit zum Quadrat sehr groß ist, scheint es keinen sichtbaren Übergang zwischen Materie und Energie zu geben. Diese Übergänge gibt es aber tatsächlich und sie vollziehen sich unter irdischen Bedingungen in den Prozessen von Kernspaltung und Kernfusion. Dabei wird jeweils Energie in großem Maße freigesetzt. Wendet man die Maxime Goethes zum Wesen des Schönen nun auf das bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts «geheime» Naturgesetz E=mc2 an, so kann die Frage auch anders gestellt werden. Welche Schönheit ist mit dem nunmehrigen Bekanntwerden des bisher verborgenen Naturgesetzes bezüglich Energie und Materie aus unserem Erleben verschwunden?

An die Stelle des Mysteriums der Welterschaffung durch ein göttliches Wesen voll Wahrheit, Schönheit und Güte, das mit den Worten «Es werde Licht!» die Schöpfung beginnt, ist die Möglichkeit getreten, durch kontrollierte Atomkernmanipulation Materie aufzuspalten oder zu verdichten und dabei Wärmewirkungen hervorzurufen. Die Empfindungen von Ehrfurcht und Schönheit im Hinblick auf die natürliche Schöpfung sind in Folge dieser Enthüllung verblasst. Stark geworden ist das Gefühl von Macht und das Bewusstsein, mit dem nun möglich gewordenen gezielten Freisetzen von Kernkräften auch ein beispielloses Werk der Zerstörung anzurichten. Die Menschheit hat in den vergangenen Jahrzehnten gelernt, mit dieser Verantwortung vorwiegend friedlich umzugehen. Vielleicht wird es einmal sogar eine Technik geben, die Atomkraftwerken und Kernfusionsreaktoren einen kunstvoll gestalteten Ausdruck verleiht, der uns auch dieses rein technisch «enthüllte» Naturgesetz wieder als menschlich und schön empfinden lässt. Der im Vollzug des Erkenntnisfortschrittes der Menschheit enthüllte Geheimnischarakter der Welt hat uns tatsächlich in eine Situation geführt, wo statt Achtung Bewunderung und Verehrung für die Welt und das Leben eben auch Zerstörung, Hass und Entmenschlichung ganz real und wirksam geworden sind.

Rohstoff Kunst

Die Aufgabe der Kunst besteht darin, den vorhandenen «Rohstoff Schöpfung» seiner ihm innewohnenden Eigenart entsprechend wieder in den Geistzusammenhang zu versetzen, aus dem er ursprünglich herausgeboren wurde. Dem Menschen kommt es zu, in der meditativ vertieften Wahrnehmung das weiterzuentwickeln, was in Form der Materie auf dem Weg der Weltentwicklung gleichsam unvollendet liegengeblieben ist. Der Stein am Wegesrand kann dem künstlerisch begabten Blick zum Anstoß werden, ihn durch intuitiv geführte Umgestaltung in einen neuen Geheimniszustand zu erheben. Dem so geschaffenen Kunstwerk gegenüber wird uns das Empfinden von Schönheit neu geschenkt. An diesem Beispiel wird die Weltbedeutung eines Ausspruchs von Joseph Beuys erkennbar. Er vertrat die Ansicht, dass jeder Mensch ein Künstler sei, und er selbst wollte sich auch nur insoweit als Mensch bezeichnen, als er sich auch als Künstler erleben konnte. Ohne diese Kraft des Künstlerischen würde die Welt nur immer weiter ihrer Geheimnisse enthoben werden. Dem Menschen jedoch würde sie als geistverlassene Öde erscheinen, in der er seine Lebenszeit ohne Hoffnung auf die Überwindung des naturwissenschaftlich voraussehbaren endgültigen Wärmetodes verlaufen sehen müsste.

Für Rudolf Steiner war die selbstbewusste Ausbildung und Pflege der Empfindungen von Achtung Bewunderung und Verehrung dem Wahren, Schönen und Guten gegenüber ein zentrales Anliegen auf dem von ihm entwickelten Schulungsweg. Im alltäglichen Leben tauchen diese Gefühlsregungen zwar manchmal spontan auf, sie bedürfen jedoch einer bewusst geführten, systematischen Verstärkung, um eine wirksame Quelle geistigen Wachstums im Menschen zu werden. Diese Gefühle sollten vor allem auch dem Erleben von Wahrheit und Erkenntnis gegenüber entwickelt werden. Er verweist im Zusammenhang damit auch auf die Seelenstimmung, die mit dem konzentrierten Beobachten von Vorgängen des Wachsens, Gedeihens und Erblühens in der Natur entwickelt werden kann. Diese Stimmung entspricht dem inneren Erleben, das wir einem Sonnenaufgang gegenüber haben können. Im Wechselspiel dazu steht ganz polar die bewusste Auseinandersetzung mit Vorgängen des Absterbens, Verwelkens, Verdorrens in der äußeren Natur. Auch diese Gefühlsart bedarf der gezielten Entwicklung im Seeleninneren. Sie entspricht der Empfindung, die wir beim Aufgang des Mondes haben können. An diesen beiden Erlebnisarten kann sich der übende Mensch im inneren Werden orientieren. Er findet solchermaßen zwischen Sonnenaufgang und Mondaufgang hindurch den Mittelweg in die geistige Welt. Die ungeahnte Schönheit seines eigentlichen Wesens wird ihm dabei offenbar.

In einem Spruch für die zweite Juniwoche aus dem Seelenkalender heißt es dazu folgend:

«Es ist in dieser Sonnenstunde

an dir die weise Kunde zu erkennen:

An Weltenschönheit hingegeben,

in dir dich fühlend zu durchleben:

Verlieren kann das Menschen-Ich

und finden sich im Welten-Ich»

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