Text: Christa Horvat
Der erste Schritt in die Welt beginnt in der Überwindung eines Widerstands. Geburt ist für das Kind ein schwerer Vorgang ein Kampf gegen eine Wand, eine Enge aber es „will“ auf die Welt kommen. Setzt es den Geburtsvorgang selber in Gang? In jedem Fall tritt es aus der gewohnten Umgebung in eine völlig andere, neue Welt. Diese „Vertreibung“ ist notwendig, denn eine Weiterentwicklung im Uterus wäre nicht möglich.
Die Geburt ist schmerzhaft für die Mutter und herausfordernd für das Kind. Es verliert die Geborgenheit und muss nun beginnen um sein Leben zu kämpfen. Es ist Hunger und Durst, Wärme und Kälte ausgesetzt. Geburten verlaufen auch nicht immer gleich, sie können langsam oder schnell vonstatten gehen. Sie können Schäden und Traumata verursachen, die der Heranwachsende ein Leben lang ertragen und bekämpfen muss. Er hat dann die Last, aber auch die Möglichkeit, von klein auf zu lernen Widerstände zu meistern. Es gehört auch zur Aufgabe der Mutter und auch des Vaters, ihre Kinder, die sie großgezogen haben, sobald sie erwachsen sind, in die Welt zu entlassen, damit sie sich entfalten können.
Das Märchen von Hänsel und Gretel schildert diesen Weg und das Meistern von Widerständen unerbittlich und konsequent. Es erzählt in Bildern wie unsere Seele (Gretel) und unser Geist (Hänsel) sich auf den Weg machen (ausgesetzt werden im Wald) zur Inkarnation (Hexenhaus) bis zum Tod, der Rückkehr ins Vaterhaus.
Hänsel und Gretel
Eltern
Was sind das für Eltern, die ihre Kinder im Wald aussetzen wollen? Der Vater ist Holzhacker. Er fällt Bäume und schneidet sie in kleine Stücke. Im Gegensatz zum Gärtner, der das Wachsen der Pflanze betreut, verliert er in seiner Tätigkeit das Ganze aus den Augen, er macht aus dem lebendigen Baum Kleinholz. In dieser Familie und an diesem Ort gibt es für die Kinder keine Nahrung mehr und keine Perspektiven. Es wird deutlich, das ihnen schon alles gegeben wurde was möglich war. Der Vater beginnt das nächtliche Gespräch: „Wie können wir unsere armen Kinder ernähren, wo wir für uns selbst nichts mehr haben?“ Die Mutter schlägt vor.“ Wir führen morgen die Kinder hinaus in den Wald und lassen sie allein.“ Der Vater erkennt, dass es notwendig ist etwas zu verändern, die Mutter handelt. Gemeinsam machen sie das Richtige. Sie regen ihre Kinder dazu an, einen neuen Weg zu gehen, weil dieser notwendig ist und es keine andere Möglichkeit gibt. Diese Vaterwelt ist jene, die Seele und Geist verlassen soll, um ein neues Leben auf der Erde zu beginnen. Die Vaterwelt, der Weltengrund, lebt in allen Dingen, wird aber zum Holzhacker, sobald die Zeit reif ist, denn auch Seele und Geist verlieren das Ganze aus den Augen. Warum? Der Mensch soll die Gottesferne (die Ferne vom Vater– siehe das Gleichnis vom verlorenen Sohn) kennenlernen, um Freiheitswege gehen zu können, durch die er Selbsterkenntnis erlangt und erfahren kann, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Die Kinder
Hänsel und Gretel sind Bild von Geist und Seele, die sich Hand in Hand auf den Weg zur Inkarnation machen sollen. Hänsel findet sich am Beginn des Märchens immer zurecht, er bestimmt was geschieht und weist den Weg. Er erblickt als erster den weißen Vogel, dem sie folgen. Hänsel muss die Vaterwelt verlassen, um in Selbst-erkenntnis neu belebt zu werden.
Gretel ist die Seele, die dem Geist Wohnung gibt. Zusammen sollen sie Freiheitswege gehen. Der Geist will sich mithilfe der Seele eine eigene Welt schaffen und in dieser eine neue, selbst gewählte Verbindung mit der Welt eingehen. Anfangs weint Gretel viel und ist hilflos, sie fühlt sich verlassen.
Voll Freude entdecken sie das Haus aus Brot mit dem Dach aus Kuchen und den Fenstern aus Zucker. Die kosmischen Aspekte des Menschen vereinen sich mit der physischen Materie. Es kommt zur Inkarnation.
Das wird deutlich bei der Ankunft der Kinder im Hexenhaus, dem physischen Aspekt in „Knusper, knusper, knäuschen, wer knuspert an meinem Häuschen?“ und dem geistig-seelischen Aspekt in „Der Wind, der Wind, das himmlische Kind“. Anfangs sind die Kinder gut aufgehoben (Schwangerschaft). Die unerbittlichen Schicksalskräfte der Erde bekommen die Kinder aber am nächsten Tag zu spüren (mit der Geburt). Hänsel, als Bild für den geistigen Anteil in uns, wird in einen Käfig gesperrt und (mit Wissen) gemästet, was ein Versuch ist, den Geist vom lebendigen Wissen, der Weisheit, in das materialistische, intellektuelle Denken abzudrängen. Die weibliche Figur (die Seele) ist im Märchen oft mit Wasser verbunden. Wir versinken in unseren Gefühlen und können den Boden unter den Füßen verlieren. Die Aufgabe von Gretel ist es, Wasser zu tragen, die Schalen von Krebsen (Wassertiere) sind ihre Nahrung. Sie ist anfangs hilflos den Anweisungen der Hexe ausgeliefert.
Die Hexe lebt ihre Triebe, Leidenschaften, ihre Gier und ihren Egoismus aus. Sie ist Bild für die negativen Aspekte des Menschen. Sie möchte die beiden Kinder verschlingen und kann es kaum erwarten, bis Hänsel dick genug ist. Die Kinder sind gefangen, ihrer Freiheit beraubt. Aber sie beginnen zu erkennen, was die Ziele der Hexe sind. Die Widerstände, die uns im Leben entgegentreten, finden wir alle in uns selbst.
Die Kinder durchschauen langsam diese scheinbar unbesiegbare Kraft der Hexe und werden mutiger. Erkenntnis-kräfte und Willenskräfte sind die wesentlichen Elemente, um Widerstände zu brechen. Sie fordern das auch heraus. Hänsel reicht der Hexe bei der Probe, ob er schon fett ist, ein Knöchelchen hin, und Gretel durchschaut die Absicht der Hexe, sie in den Ofen stoßen zu wollen. Sie täuscht Unwissen vor und stößt die Hexe, die das selbst heraus-fordert, indem sie den Kopf in den Ofen steckt, hinein. Dass die Hexe verbrennt, ist ein Bild für einen Läuterungsprozess, eine Erlösung. Das ist dann auch der Wendepunkt der Geschichte.
Gretel befreit Hänsel. Denken und Fühlen, erlöst von den einengenden Kräften der Hexe, verbinden sich in Harmonie und sind wieder vereint. Die Kinder haben willenskräftig, mutig und furchtlos gehandelt und betreten das Haus. “Da standen in allen Ecken Kasten mit Perlen und Edelsteinen“, in die unsere Tränen und Leiden auf Erden verwandelt werden und den Sieg über die Hexenkräfte in uns anschaulich machen.
Durch das Überwinden des Widerstandes sind die Kinder erwachsen geworden und haben das Abenteuer der Selbstwerdung bestanden. In Gretel sind am Ende die Herzenskräfte erwacht, sie übernimmt die Führung. In ihr entfaltet sich der helle Aspekt des Mütterlichen. Die dunklen Aspekte sind durch das Feuer geläutert, oder gestorben. Als die Kinder zu einem Teich kommen, ist Gretel sehr achtsam und erlaubt der Ente nicht, beide auf einmal ans andere Ufer zu bringen, sondern eines nach dem anderen.
Heimkehr
Reich an Schätzen kehren die Kinder zum Vaterhaus zurück. Haben sie bei ihrer Ankunft im Hexenhaus nur Zucker (Fenster) und Kuchen (Dach) gegessen, so werden sie jetzt auch das Brot zu schätzen wissen, das Brot des Lebens. Erkenntnis wird meist aus Leiderfahrung und Widerstand geboren, führt aber am Ende zu Herzenskräften und zur Freiheit.