Vertrauen und kindliche Entwicklung

Text: Franco Galletto, Klassenlehrer in der Freien Waldorfschule Linz

In der Waldorfpädagogik wird die menschliche Beziehung zwischen der lehrenden Persönlichkeit und den Schülerinnen und Schülern als das eigentliche Medium betrachtet, durch welches Bildung stattfinden kann. Mit Bildung ist hier etwas Umfassenderes und Tieferes als eine bloße Wissensvermittlung gemeint.

Vertrauen ist ein Grundelement jeder Beziehung. Wir können uns ohne Vertrauen weder mit anderen Menschen noch mit der Welt verbinden und ohne diese Verbindungen könnten wir nicht bestehen. Vertrauen ist ein Bestandteil unseres Wesens.

Es ist ein wesentliches Merkmal menschlicher Entwicklung, dass wir darauf angewiesen sind, uns immer bewusster das anzueignen, was uns zunächst wie selbstverständlich „gegeben“ ist. Das gilt ganz besonders in Bezug auf das Vertrauen.

Die Welt ist gut – Urvertrauen

Das Kind kommt auf die Welt und ist mit einem Urvertrauen gesegnet. Rudolf Steiner sagt, dass die ersten Lebensjahre – eigentlich die ganze Zeit bis hin zur Schulreife – in eine Stimmung getaucht sind, die mit den Worten ausgedrückt werden könnte: „Die Welt ist gut“.

Das ganze Wesen des Kindes ist von tiefstem Vertrauen durchdrungen. Vertrauen ist also nicht etwas, was wir Erwachsene Kindern beibringen können, wir sollten uns vielmehr ihres Vertrauens würdig erweisen.

In der Waldorfpädagogik wird die menschliche Beziehung zwischen der lehrenden Persönlichkeit und den Schülerinnen und Schülern als das eigentliche Medium betrachtet, durch welches Bildung stattfinden kann. Mit Bildung ist hier etwas Umfassenderes und Tieferes als eine bloße Wissensvermittlung gemeint.

Das schulreife Kind kommt in die Schule und bringt uns einen unermesslichen Schatz entgegen, das Kostbarste, was es hat, nämlich das Urvertrauen, mit dem es auf die Welt gekommen ist – sofern es keine traumatischen Erfahrungen machen musste, die sein Vertrauen bereits verletzt haben.

Die Welt ist schön – Seelennahrung

Die zentrale Bezugsperson – die Klassenlehrerin oder der Klassenlehrer – übernimmt hier eine enorme Verantwortung. Die Beziehung zu ihr oder zu ihm wird für das Kind ein Tor zur Welt. Die Stimmung, in welche sich der heranwachsende Mensch nun einlebt, heißt: „Die Welt ist schön“. Das Kind möchte der Sprache seiner Lehrerin, seines Lehrers lauschen und durch das Wort inhaltsvolle, künstlerisch gestaltete Bilder aufnehmen, die seine Seele ernähren können. Doch das Vertrauen, das die Kinder ihren Erziehern zunächst schenken, muss im Laufe der Zeit immer wieder neu erobert werden.

Zwischen dem 9. und dem 10. Lebensjahr findet ein bedeutender Entwicklungsschritt statt. Es ist hier freilich nicht möglich, dieses umfassende Thema ausführlicher zu erörtern, aber wir dürfen uns fragen, was diese Entwicklungsschwelle mit Vertrauen zu tun hat.

Die Kinder beginnen in dieser Zeit, sich stärker als Individuen zu empfinden. Selbst die Verbindung zu den engsten Bezugspersonen erfährt eine Lockerung. Ein Trennungsprozess setzt allmählich ein, der lange andauern und schmerzhaft sein kann. Doch ohne Trennung kann keine Selbstständigkeit erlangt werden. Bei Entwicklungskrisen dieser Art ist es immer von entscheidender Wichtigkeit, ob die Kinder sich von den Erwachsenen verstanden und wahrgenommen fühlen, ob ihre Erzieher durch ihre Haltung sich erneut des Vertrauens der Kinder als würdig erweisen. Es ist, nach Rudolf Steiner, ganz wesentlich für die weitere Entwicklung des Kindes, dass es gerade in diesem Alter nicht das Vertrauen in den guten Menschen verliert.

Um das 12. Lebensjahr kommt es zu einer nächsten Prüfung. In den heranwachsenden Menschen erwacht verstärkt die Fähigkeit, Gesetzmäßigkeiten in der Welt zu entdecken und zu begreifen. Eine bestimmte Art logisch-irdischen Denkens beginnt eine Faszination auf die Kinder auszuüben.

Ein neuer Konflikt entsteht in der kindlichen Seele,  „ jener Konflikt, der da entsteht, wenn man auf der einen Seite zu der göttlichen Weltenlenkung hinaufschaut, zu der das Kind zwischen dem 9. und dem 10. Lebensjahr hat hingelenkt werden können, und wenn man auf der anderen Seite ums 12. Jahr nun von den äußeren Naturerscheinungen Kenntnis nimmt. Diese Naturerscheinungen treten ja vor uns hin, ohne dass sie uns von moralischen Prinzipien durchsetzt erscheinen, ohne dass wir das Göttliche in ihnen unmittelbar wahrnehmen. Das brachte ja die modernen Menschen überhaupt in jenen Konflikt hinein, dass auf der einen Seite das Gemüt hinaufschaut zu den religiösen Quellen des Daseins, auf der anderen Seite zur Naturerkenntnis. Um das 12. Lebensjahr herum merken wir bei dem heranreifenden Kinde, dass wir da leise anschlagen dürfen diese Konflikte , dass wir dann aber auch in der Lage sind, weil jetzt die seelisch-religiösen Empfindungen so stark, so frisch, so lebensvoll, so jugendlich noch sind, wie sie eben nur beim zwölfjährigen Kinde sein können, dass wir dann in der rechten Weise dem Kind herüberhelfen können über diese Kluft, so dass es im ganzen späteren Lebensalter die Natur selber nicht entgöttlicht zu sehen braucht, sondern den Einklang finden kann zwischen der Natur und dem göttlich-geistigen Wesen der Welt.“ (Vortrag von Rudolf Steiner, gehalten am 4. November 1922 in Haag)

Die Vertrauensbrücke, welche die Kinder über die gekennzeichnete Kluft tragen kann, führt sie zur nächsten Stufe, bei welcher sie nun ihre Erdenreife erlangen können. Die Erdenreife, von welcher die Geschlechtsreife nur einen einzelnen Aspekt darstellt, kann als eine Erneuerung des Urvertrauens betrachtet werden, mit welchem das Kind auf die Welt gekommen ist. Das kleine Kind fühlt sich ja mit der ganzen es umgebenden Welt verbunden. Diese Erneuerung findet nun auf einer anderen, neuen Ebene statt.

Die Welt ist wahr – natürliches Vertrauen zum Denken

Und dann kommt die Oberstufe, in welcher die Urteilsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler heranreifen soll. „Die Welt ist wahr“ ist hier nach R. Steiner die entsprechende Stimmung: „Die Seele hat ein natürliches Vertrauen zu dem Denken. Sie fühlt, dass sie alle Sicherheit im Leben verlieren müsste, wenn sie dieses Vertrauen nicht haben könnte. Das gesunde Seelenleben hört auf, wenn der Zweifel am Denken beginnt.“

(Rudolf Steiner, „Die Schwelle der geistigen Welt“, erstes Kapitel).

Einem einseitigen, trockenen Denken werden sich allerdings nur bestimmte Gesetzmäßigkeiten der unorganischen Natur erschließen können. Dem Leben gegenüber bleibt ein solches Denken fremd. Erst einem Denken, das neben der Klarheit auch Schönheit und Liebe in sich trägt, kann sich das Lebendige in der Welt erschließen. Nur ein solches Denken ist imstande, das Leben auf unserem Planeten zu fördern und zu beschützen. Hierfür ist Goethe das große Vorbild. Seine Erkenntnisart ist eine solche, welche die drei erwähnten Qualitäten umfasst. Nach einer solchen Erkenntnisart – als Quelle einer neuen Kultur und einer neuen Technologie – verlangt die Erde schon seit geraumer Zeit. Bedeutende Schritte wurden in diese Richtung gemacht, doch die Anzahl der Menschen, welche auf die Notwendigkeit und Fruchtbarkeit dieses neuen Weges bislang aufmerksam wurde, ist heute immer noch zu gering.

Ein zusätzlicher Aspekt, der mit Erziehung und Vertrauen zu tun hat, betrifft die innere Haltung der Waldorflehrerinnen und Waldorflehrer.

Am Ende des ersten Vortrags der allgemeinen Menschenkunde sagt R. Steiner: „ Es ist einmal ein großer Unterschied, meine lieben Freunde, ob der Lehrer in die Schule durch die Klassentür zu einer kleineren oder größeren Anzahl von Schülern hineingeht oder der andere Lehrer. Es ist ein großer Unterschied, und der liegt nicht bloß darin, dass der eine Lehrer geschickter ist, die äußeren pädagogischen Handgriffe so oder so zu machen, als der andere; sondern der hauptsächliche Unterschied, der wirksam ist beim Unterricht, rührt her von dem, was der Lehrer in der ganzen Zeit seines Daseins an Gedankenrichtung hat, die er durch die Klassentür hereinträgt. Ein Lehrer, der sich beschäftigt mit Gedanken vom werdenden Menschen, wirkt ganz anders auf die Schüler als ein Lehrer, der von alledem nichts weiß, der niemals seine Gedanken dahin lenkt.“

Hier werden wir auf das Wesentliche der Waldorfpädagogik aufmerksam gemacht, nämlich auf die spirituelle Quelle, aus welcher wahre Menschenerkenntnis – als Grundlage der Erziehungskunst – fließt und unser pädagogisches Tun täglich inspirieren kann.

Rudolf Steiner spricht von keiner konkreten Methode, die „sensationelle Ergebnisse“ verspricht, und die dann vor der Öffentlichkeit ausgebreitet werden könnte, um dort Anerkennung zu bekommen. Nein, er macht uns auf eine ganz intime, ja verborgene Wirksamkeit aufmerksam, welche allerdings die entscheidende für die Bildung der heranwachsenden Menschen ist. Dies verlangt von uns Lehrerinnen und Lehrern ein großes Vertrauen! Wir müssen Vertrauen in die intime Wirkung dessen haben, was sich zwischen uns und den SchülerInnen abspielt, wenn im Hintergrund von dem, was wir im Unterricht aussprechen, die große Idee des werdenden Menschen lebt und jeden Inhalt mit durchdringt. Nur aus diesem Vertrauen heraus kann uns der Mut erwachsen, diese Pädagogik in der Welt in einer Art und Weise zu vertreten, die ihrem tieferen Wesen entspricht.

Das Wesen der Waldorfpädagogik ist äußerst lebendig und verwandlungsfähig; es braucht allerdings Lehrerinnen und Lehrer, die es lieben und das Gespräch mit ihm suchen und pflegen. So kann es eine zeitgemäße Erziehungskunst immer wieder neu inspirieren.

Permalink