Text und Fotos: Wolfgang Schaffer, Wien
Für den Schulungsweg der Anthroposophie kommt es in mancherlei Hinsicht darauf an, Wachstumsprozesse zu beachten und aufmerksam zu begleiten. So gehört es zu den ersten Hinweisen auf dem Wege einer bewussten Ausbildung von seelisch – geistigen Wahrnehmungsorganen, sich konzentriert mit Wachstumsvorgängen in der äußeren Natur auseinandersetzen.
Der astrale Plan
Auf dieser Stufe der Vorbereitung zur Erlangung von Erkenntnissen der höheren Welten hält man sich selbst dazu an, die Aufmerksamkeit im Wahrnehmen seiner Umwelt gezielt auf Vorgänge des Wachsens, Werdens und Erblühens zu richten. Besonders am Beginn des Frühlings sind ja überall die ersten Spuren der Entfaltung von Knospen, Blättern und Blüten zu bemerken. Es fällt den Menschen im Allgemeinen leicht, sich der Hoffnung auf ein Nachlassen der winterlichen Finsternis und Kälte hinzugeben. Frühlingsstimmung schafft sich mit den ersten warmen Sonnenstrahlen in den Lebewesen einen neuen Raum. Diese Stimmung bleibt aber oft nur an der Oberfläche und verklingt auch rasch gewohnheitmäßig. Der anthroposophische Schulungsweg setzt genau dort an, wo man sich nicht nur mit einem flüchtigen Bekanntwerden der Wachstumskräfte begnügen will. Es geht speziell darum, sich geduldig und mit Ausdauer in diese Kräfte zu vertiefen. Das bedeutet zum Beispiel einer blühenden Pflanze gegenüber absichtlich in seinem alltäglichen Weitergehen innezuhalten. Sich die Zeit zu nehmen, sie möglichst genau und intensiv nach Farbe, Form und Duft wahrzunehmen und sich diese Eindrücke in Vorstellungen verwandelt seiner Seele einzuprägen. Dann erst überlässt man sich der Stimmung und dem Gefühl, das sich im Nachklang solcher Bemühungen im Seeleninneren einstellt. Allgemein gesagt geht es darum, die Wahrnehmung von Wachstumsvorgängen in der Natur bewusst zu intensivieren und die daraus entspringenden Gefühle innerlich zu sichten und zu pflegen. Eine neue, unbekannte Quelle von Empfindungen wird damit erschlossen. Es handelt sich bei dieser Gefühlsqualität um die Stimmung, die mit einem Sonnenaufgang verglichen werden kann. Man kann auch sagen, es wird die Quelle dessen fühlbar, was das Wachsen und Erblühen in jeder Pflanze eigentlich bewirkt. Das Licht der Sonne spiegelt sich ja gewissermaßen in jeder einzelnen Blüte wieder. Um diese Hervorhebung eines ganz bestimmten Aspektes aus der Ganzheit der Naturvorgänge auszugleichen, wird auf dem anthroposophischen Schulungsweg nun auch das Gegenteil bedacht. So wie im Jahreslauf der Frühling auf den Winter folgt und in den Sommer mündet, gibt es den Herbst, wo alles Wachsen und Gedeihen schließlich in das Welken, Absterben und Verdorren übergeht. Auch in dieses Geschehen soll sich der im Sinne der Geisteswissenschaft übende Mensch möglichst objektiv vertiefen. Der Seele erwachsen aus dieser ganz anderen Welt von Wahrnehmungen auch eine entsprechend andere Art von Gefühlen. Diese Empfindungen sind nun vergleichbar mit dem langsamen Aufsteigen des Mondes vor dem Hintergrund des Nachthimmels. Zwischen Aufgang von Sonne und Mond führt der Weg gleichsam in die Mitte einer Welt von Gefühlen, die nur insofern wahrnehmbar werden, als sich der Mensch die Mühe macht, die überall und jederzeit vorhandenen Keimpunkte dieser Empfindungen durch Übung zum Wachsen zu bringen. Wohin führt nun dieser Weg und was ist das Ziel dieser Bemühungen? In dem Buch «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten» beschreibt Rudolf Steiner das Heraufdämmern des «Astralen Planes» als Ergebnis dieser inneren Wachstumsvorgänge. Es wird dadurch eine übersinnliche Welt von Lebenskräften wahrnehmbar, die allen äußerlich sichtbaren Lebensvorgängen zugrunde liegt. An dem ganz einfachen Beispiel von Wachstums- und Zerfallsvorgängen in der äußeren Natur lässt sich ein Grundprinzip der Anthroposophie erkennen. Es liegt am Menschen selber, ob und auch wie weit er die in ihm liegenden Möglichkeiten zu einer höheren Entwicklung verwirklicht. Er kann bei entsprechender Anregung immer und überall damit beginnen, seine Gedankenführung und sein Gefühlsleben dem Geist gemäß zu gestalten. Diese Wachstumskraft im Inneren tatsächlich zu beleben ist allerdings nicht ganz so einfach, wie es sich mit Worten schildern lässt. Wer sich aufmacht, diese Übungen auch wirklich umzusetzen, wird recht bald bemerken, woran es zumeist mangelt.
Wachsen lassen
Um etwas zum Wachsen zu bringen, sind gewisse Voraussetzungen notwendig. Zuerst muss es etwas geben, das durch Wachstum vergrößert, vermehrt oder verdichtet werden kann. In unserem Beispiel sind es gewisse Wahrnehmungen, die zu bestimmten Empfindungen der Seele führen. In der Pflanzenwelt sind es Samenkörner, die unter entsprechenden Bedingungen von Erde, Wärme, Licht, Luft und Wasser zerfallen, um sich durch Keim- und Wurzelbildung in ein neues Werden und Wachsen zu versetzen. «Aus nichts wird nichts!» heißt es in einem bekannten Spruch. Es muss also erstens etwas da sein und es müssen zweitens die entsprechenden Bedingungen gegeben sein, um Wachstumsvorgänge auszulösen. Drittens vollziehen sich Wachstumsprozesse nicht mit einem Schlag, sondern in der beständigen Wiederholung ähnlicher Situationen. Wachsen braucht Rhythmus. Tag und Nacht wechseln sich ab, die Dauer des Sonnenlichts steigert und vermindert sich immer nur allmählich. Als vierte und letzte Bedingung sei hier Abgrenzung genannt. Wachstum vollzieht sich in Organismen physiologisch durch Zellteilung. Dabei ist von entscheidender Bedeutung, dass die äußerste Hülle eines Organismus als Abgrenzung gegen die umgebende Welt nicht verlorengeht. Die Teilung von Zellen würde sonst den Zerfall eines Lebewesens bedeuten. Beziehen wir nun die geschilderten Wachstumsbedingungen auf den Übungsweg zum Wahrnehmen des «Astralen Planes» selbst, so ergibt sich folgendes Bild. Wir beginnen diese Beschreibung mit der zuletzt genannten, vierten Voraussetzung. Es ist der Begriff der Abgrenzung. Es braucht zum Gelingen der Übung eine äußere Hülle. Diese Hülle ist jetzt nicht physisch sichtbar wie zum Beispiel die Haut eines Menschen, sondern rein seelisch – geistig vorhanden. Sie besteht in dem Entschluss, den Übungsweg zu gehen und der inneren Aufrichtigkeit, dem Vorhaben treu zu bleiben. Dieser Entschluss wächst und stärkt sich mit jedem neuen Tag, an dem er wieder vollzogen wird. Zweitens braucht es einen Lebensrhythmus, der die beständige Wiederholung des Übungsvorganges möglich macht. Naheliegend ist es, jeden Tag einen Spaziergang womöglich zur gleichen Zeit an einem pflanzenreichen Ort durchzuführen. Drittens müssen die Bedingungen vorhanden sein, um sich ungestört von inneren und äußeren Ablenkungen ganz der Sache zu widmen, die man sich vorgenommen hat. Die vierte Bedingung liegt in dem natürlich gegebenen, spontanen Gefühl, das wir einer blühenden oder verwelkenden Pflanze entgegenbringen. Aus dieser kurzen Zusammenstellung wird wohl gleich ersichtlich, worin sich auch die Hindernisse für das geistig-seelische Wachstum zur Erlangung übersinnlicher Erkenntnisse ergeben können. Dieses einfache Vorhaben wird man sich den Anforderungen des Alltags gegenüber in einem stetigen Ringen erst erobern müssen!
Geheimnis von Geburt und Tod
Der bisher geschilderte Einblick in den Schulungsweg der Anthroposophie kann nun noch um eine Stufe erweitert werden. Es geht dann um die Gewinnung des Verständnisses dessen, was als das «Geheimnis von Geburt und Tod» bezeichnet werden kann. Auch hier liegt der Ausgangspunkt des Geschehens in der äußeren Wahrnehmung bestimmter Entwicklungszustände von Pflanzen. Es kommt jedoch hinzu, dass das sinnlich Gegebene um eine Reihe von inneren Vorstellungsbildern ergänzt wird. Schließlich wird noch ein ganz spezieller Gedankeninhalt angefügt, auf den man sich konzentriert. Erst dann gibt man sich abschließend der Empfindung hin. Das Besondere an dieser ganzen Übungsreihe besteht darin, dass die zuletzt gewonnene Empfindung mit dem Wahrnehmen von Farbeindrücken beschrieben werden kann. Wir «sehen» also die Farben dessen, was wir fühlen. Dieses «Farbensehen» ist aber nicht gleichzusetzen mit der bekannten normalen Wahrnehmung von Farben in der äußeren Welt. Das Geheimnis von Geburt und Tod besteht kurz gesagt darin, dass es sie in Wirklichkeit nicht so gibt, wie wir gewöhnlich meinen! Für das schauende Bewusstsein stellt das Vergehen eines voll erblühten, befruchteten Baumes nur den Übergang in den nächstfolgenden Zustand auf dem Entwicklungsweg hin zum Samenkorn dar. Dabei zieht sich die den ganzen Baum durchdringende Lebenskraft schließlich in das Samenkorn wie in eine Grabeskammer zurück. Es gibt in der voll erblühten Pflanze eben schon etwas, das man nicht mit Augen sehen kann. Dieses Unsichtbare ist die dem sichtbaren Baum zugrundliegende Lebenskraft. Ein anderes Wort dafür ist der Ausdruck «Ätherleib».
Bei der sogenannten «Samenkornmeditation» nimmt man sich nun ein kleines Samenkorn zum Ausgangspunkt einer Betrachtung. Auch bei dieser Übung geht es darum, zuerst sinnlich wahrzunehmen, dann diese Wahrnehmung durch eine Reihe von willentlich erzeugten Vorstellungsbildern in eine innere Bewegung zu versetzt um sich abschließend auf eine kurze Folge von Worten zu konzentrieren. Konkret legt man sich zum Beispiel einen kleinen Apfelkern gut sichtbar zurecht und versucht sich alle beobachtbaren Einzelheiten möglichst genau einzuprägen. Im Anschluss daran beginnt man nun sich vorzustellen, wie dieser trockene Kern dazu übergeht, einen Keim und Wurzeln auszubilden. Man lässt den Keim jetzt in der eigenen Vorstellung möglichst wirklichkeitsgetreu weiterwachsen, bis er über den Zustand der vollsten Entfaltung in Blüten und Duft zum Fruchten und Reifen gelangt. In dem Apfel, der schließlich vom Baum gepflückt wird, findet sich zuletzt wieder ganz genau der kleine Kern, von dem der Weg im Vorstellen den Anfang nahm.
Dann stellen sie sich den Apfelkern so vor, dass er künstlich nachgebildet ist. Vergleichen Sie im Geiste beide Kerne. In dem wirklichen Apfelkern ist eine unsichtbare Kraft enthalten, die ihn zum Keimen Wachsen, Reifen treibt. Der künstlich erzeugte Kern ist zwar sinnlich nicht vom echten zu unterscheiden, es fehlt ihm aber sicher diese unsichtbare Kraft. Machen sie sich im Hinblick auf den wirklich vor ihnen liegenden Kern den Gedanken möglichst klar: «Das Unsichtbare wird sichtbar werden!» Es wird durch ein solches beharrliches Versuchen die Lebenskraft selber für die übende Seele sichtbar. Wer sich darauf einlässt, diese kleinen Schritte zur Erweiterung des alltäglichen Bewusstseins zu verwirklichen, wird in jedem Fall eine Bereicherung seiner Wahrnehmungsmöglichkeiten erlangen. Um auch das damit verbundene Entwicklungsziel zu erreichen, wird es aber nötig sein, sich immer wieder mit dem gesamten Übungsverlauf in dem schon genannten Buch von Rudolf Steiners bekanntzumachen. Der vorliegende Text dient nur als Hinweis auf dieses Ziel. Es besteht in der Fähigkeit, den Äther- oder Lebensleib eines Lebewesens auf der Erde direkt wahrzunehmen.
Neues Werden
Für die Ausbreitung der Anthropsophie in der Welt gilt ein ähnliches Prinzip wie für den bisher beschriebenen Übungsweg der Seele zur Erlangung eines erweiterten Wahrnehmungsvermögens. Der Beginn jeder Initiative im Zusammenhang mit der Anthropsophie liegt in der möglichst getreuen Wahrnehmung eines bereits vorgegebenen Weltinhaltes. Beim Menschen selbst ist dieser Punkt sein jeweils aktueller Bewusstseinsinhalt im Zusammenhang mit dem bisherigen Verlauf seines Erdenweges. Für jedes Lebensfeld gibt es noch dazu die konkret als Weltinhalt vorliegenden Ausgangspunkte. Wenn man zum Beispiel einen anthroposophischen Zweig gründen will, sind das der Umkreis gleichgesinnter Menschen und der Ort, in dem die Gründung stattfinden soll. Im Falle einer Initiative zur Gründung einer Waldorfschule, einer biologisch- dynamischen Hofgemeinschaft oder einer sozialtherapeutischen Institution sind die Arbeitsschwerpunkte zwar verschieden, doch bleibt der Weg zur Verwirklichung der gleiche. In jedem Fall gilt es, gleichgesinnte Menschen von der Begründungsidee zu begeistern, das bisher Gewordene wahrzunehmen und richtig einzuschätzen. An diesen Schritt schließt sich das Tätigwerden im inneren Sinn an. Es geht dabei um die Betätigung der Vorstellungskraft im Hinblick darauf, was aus dem Gewordenen in ein neues Werden übergeführt werden kann. Dann beginnt das Wachsen, Werden und Erblühen von Initiativen durch den ganz konkret geleisteten Einsatz von Arbeitskraft und Lebenszeit. Ist der Impuls schließlich verwirklicht und lebensfähig, beginnt die Zeit, sich aus der aktiven Gestaltung zurückzuziehen und die Verantwortung an die kommenden Generationen weiterzugeben.
So hat Rudolf Steiner sein Lebenswerk der Welt übergeben, so wollen wir es auch nach hundert Jahren im Sinne seines folgenden Wahrspruchwortes weiterpflegen:
«Wenn der Mensch, warm in Liebe
sich der Welt als Seele gibt,
wenn der Mensch, licht im Sinnen,
von der Welt den Geist erwirbt,
wird in Geist-erhellter Seele,
wird in Seele-getragenem Geist,
der Geistesmensch im Leibesmenschen
sich wahrhaft offenbaren.»