Mitte bilden

Text: Wolfgang Schaffer

Ein zentraler Wendepunkt im Leben betrifft seit dem Beginn der globalen Krise im vergangenen Jahr die Art sich von Mensch zu Mensch zu begegnen.

Botin Kunst

Je nach den Begleitumständen kann eine Begegnung als mögliche Bedrohung oder als Bereicherung erfahren werden. Stand bis vor dem Beginn der aktuellen Welterkrankung die Begegnung von Menschen hauptsächlich unter dem Vorzeichen der Hoffnung, sich aneinander zu ergänzen oder von den Mitmenschen etwas Bedeutsames zu erfahren, so hat sich diese Hoffnung ganz offiziell ins Gegenteil verkehrt. Der Mensch wird als Gefahr betrachtet, vor der man sich zu schützen hat. Ein Schritt zurück in das bisher geltende Grundvertrauen von Mensch zu Mensch scheint kaum möglich, da sich alle bisher zugelassenen Hilfsmittel zur Sicherung der Sicherheit voreinander auch als nicht ganz sicher erwiesen haben. Um aus dieser Befangenheit einen Ausweg zu finden kann die Kunst zu Hilfe kommen. Für den Kunstschaffenden ist ja die Bereitschaft zur Begegnung mit dem Unbekannten durch die Voraussetzung bedingt, auch die den Schritt ins Ungewisse begleitende Gefahr in Kauf zu nehmen. Kunst entsteht dort, wo Menschen mit einer Welt in Austausch treten, die dem gewöhnlichen Bewusstsein nicht gleich zugänglich ist. Diese Menschen bringen als Künstler aus dem dort Erlebten etwas mit, was die gewohnte Welt in Staunen und Bewunderung versetzen kann. Durch die Originalität eines in ungeahnter Schönheit oder Schrecken mitgeteilten Kunstwerkes gerät der Alltag aus den hergebrachten Fugen. Denken wir an den antiken Sänger Orpheus, der aus der Unterwelt zurückgekehrt, mit seinen Liedern schon seit Jahrtausenden eine faszinierende Wirkung auf die Kulturen ausübt. Seine Liebe zu Eurydike umschließt die ganze Menschheit, sogar die Welt der Toten kann er dem Mythos folgend mit seiner Kunst erreichen. Es sind Bereiche damit angesprochen, die ein ungeübter Mensch nicht so ohne weiteres erfahren oder betreten kann. Liegen diese Erfahrungen allerdings dann durch das Geschick und die Fähigkeiten eines Künstlers ausgestaltet vor, so bewirken sie ganz Außerordentliches in den Seelen. Sie leben dann als Impulse der Begeisterung, des Trostes oder der Hoffnung weiter und verstärken so die innere Lebenskraft. Das gilt besonders für jene Menschen, die sich eine Empfänglichkeit für Eindrücke aus dieser höheren Welt bewahren konnten. Jedem wahrhaft künstlerischen Erlebnis entspricht die Schaffung einer neuen Mitte aus der Kraft des Ich, das sich damit im Seeleninneren bereichernd und vertiefend zur Geltung bringt. Wie die Botin einer fortgeschrittenen Welt kündet diese unentwegte Mittebildung davon, dass wir uns auf dem Weg zu einem hohen Ziel befinden. Es besteht darin, ein selbstverantwortliches Schöpfungswesen zu werden, das aus sich heraus auch neue Welten schaffen kann. Dieser Anspruch mag als Utopie belächelt werden, tatsächlich ist er aber auch für Skeptiker nicht ganz auszuschließen. Ein wichtiges Charakteristikum von Kunst betrifft in diesem Sinne auch den Anspruch auf unbedingte «Originalität». Selbst die banalste Welterscheinung kann als Kunst bezeichnet werden, solange sie im Original betrachtet wird. Was ist nun für die Menschen gewöhnlicher und zugleich doch origineller als ihr Angesicht?

Von Angesicht zu Angesicht

Im Gedenken an einen weltbekannten Künstler, der schon durch die Wirkung seines Namens mit dem Wesen des Christus verbunden sein wollte, könnte man das derzeit verordnete Verhüllungsgebot des menschlichen Angesichtes als sein größtes Werk betrachten. Diese Sicht ist ungewöhnlich, bringt jedoch vielleicht so manches festgelegte Urteil für Augenblicke wieder in Bewegung. Angenommen, der Verpackungskünstler «Christo» begegnet gleich in dem ersten Jahr nach seinem Erdentod auf dem Weg in die geistige Welt tatsächlich seinem Namensgeber Christus. Die Begegnung von Angesicht zu Angesicht ist so gewaltig, dass sie sich als Wirkung hier auf der Erde zeigen kann. Die Menschen beginnen plötzlich, sich furchtsam voreinander hinter Schutzmasken zu verstecken. Das Erlebnis, sich im Jenseits als Gottes Menschen anzuschauen ist so groß, dass wir uns hier auf Erden für den derzeit angelernten «Schwachsinn» in der Begegnung füreinander schämen müssen. In dem Mangel an Liebenswürdigkeit im Umgang miteinander ist auch die Ebenbildlichkeit zu Gott verdeckt. Der Wert und die Bedeutung einer Tatsache auf Erden ergibt sich aber am deutlichsten im Augenblick des entsprechenden Verlustes. Was bleibt vom Menschsein auf der Erde, wenn man das Gesicht in Filtertüten verpackt? Hätte Christo es als Künstler gewagt, die Bestimmung des Menschen durch eine solche weltweite Verpackungsaktion in Frage zu stellen? Wäre es ihm gelungen, seinen Wert an dem gezielt geplanten, zeitweiligen Verlust der Ebenbildlichkeit zu Gott ganz neu erfahrbar zu machen? Wie viele Menschen hätten daran wohl gerne und freiwillig teilgenommen?

Zur Not auch ganz allein

Ein Schritt darüber hinaus führt nun über die Begegnung mit den Gefahren durch Krankheit oder Tod zu dem Begriff des Bösen. Der Anthroposophie entsprechend handelt es sich bei diesem Bösen auf der Welt und in dem Menschen um Wesenheiten oder Kräfte, die aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgefallen sind. Sie können erst durch ihre Wirkung zu einer für sie ursprünglich nicht vorbestimmten Zeit an einem für ihr Wesen ursprünglich nicht vorbestimmten Ort zum Schaden für die Mitwelt werden. Dieses Böse stellt uns im gegenwärtigen Zeitalter der Befreiung des Bewusstseins von fremdbestimmten Grenzen vor die Herausforderung, die Wahrheit als unsere innerste Lebensquelle aufzusuchen. Damit entsteht zugleich die Pflicht, die soweit erkannte Wahrheit auch selbst zu tun! Wahrheit ist dabei nicht das, was uns ganz subjektiv beliebt, sondern was die Dinge und Wesenheiten aus sich selbst zur Geltung bringen wollen. Die Wahrheit eines anderen Wesens zu erkennen, bedeutet zugleich dieses Wesen in seiner Einzigartigkeit wieder in den Weltzusammenhang zu bringen, aus dem es ursprünglich entstammt. «Liebt das Böse gut» weist auf die Kunst, es aus dem Dunkel in das Licht des hellen Bewusstseins heraufzuholen. Auf dieser Bühne wird das Böse direkt angeschaut, wie zum Beispiel im grausamen Schicksalsspiel der griechischen Tragödien, in den Verstrickungen der Königsdramen, in den großen Opernstoffen und den visionären Romanen einer bedrohten menschlichen Zukunft. In der Art des vom realen Lebensalltag losgelösten Bilderwirkens kann das Miterleben des dargestellten Bösen und des Unheils die Seele reinigen und zur Besserung latenter Schwächen führen. Im wirklichen Leben erscheint das Böse bis zu dem Augenblick seiner Enthüllung als übermächtig und ungreifbar. Nur den Schaden und das Übel, das es hinterlässt, sind offenbar. Sobald man sich der Quelle eines Bösen durch Erkenntnis nähert, merkt man seine Wirkung an sich selbst. Es tritt maskiert als Furcht im Inneren, als Hass und Spott von außen sowie als Zweifel auf. Wie lächerlich erscheint vor diesen Mächten doch die kleinliche Bemühung, aus sich selbst heraus ein eigenständiges Urteil zu einem Sachverhalt zu bilden. Experten wissen es ganz sicher besser! Sich dessen ungeachtet zur Not auch ganz allein auf seine Denkkraft zu verlassen, dazu bedarf es einer Kraft des Mutes und der Furchtlosigkeit. Diese Tugend braucht keine Erlaubnis von irgendeiner äußeren Instanz. Sie wird im Menschenherz frei geboren und strahlt spontan aus ihm wie von einer unsichtbaren Mitte aus. Es sind damit in ihm die geistigen Helfer aufgestanden, die dem Bösen ebenbürtig mit den Menschen gemeinsam für das Gute in der Zukunft sorgen. Daraus entsteht soziale Wärme, die Menschen wieder miteinander verbindet. Das größte Kunstwerk ist dann die soziale Plastik, durch die wir uns als Menschheit geistig formen. Josef Beuys hat es uns vorgelebt, Rudolf Steiner bringt es in die Worte eines Wahrspruchwortes.

«Es bedarf der Mensch der inneren Treue, der Treue zu der Führung der geistigen Wesen. Er kann auf dieser Treue auferbauen sein ewiges Sein und Wesen und das Sinnensein dadurch mit ewigem Licht durchströmen und durchkraften»

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