Märchen erzählen uns mehr, als wir beim ersten Lesen erkennen. Ihre Sprache ist schlicht, aber nicht nüchtern. Sie ist nicht realistisch, aber auch nicht realitätsfern. Text: Christa Horvat, Dezember 2018
Es ist eine epische, schöpferische, gefühlte Sprache, eine Sprache der Bilder. Sie führt uns in eine Welt, die vielgestaltig, farbig und von unendlicher Weite ist. Stammt sie aus einem archaischen Bewusstsein, einem Bewusstsein, das so weit weg von unserem Alltagsbewusstsein ist, dass wir heute damit nicht umgehen können? Nach Erich Fromm ist die Bildsprache die einzige Universalsprache, die die Menschheit je hervorgebracht hat,…. Die gleiche für alle Kulturen im Laufe der Geschichte….Wenn wir sie verstehen, kommen wir mit dem Mythos in Berührung, der eine der bedeutsamsten Quellen der Weisheit ist, wir lernen die tieferen Schichten unserer Persönlichkeit kennen. (Erich Fromm: Märchen, Mythen Träume)
Übergänge in der menschlichen Entwicklung
Oft schildert uns das Märchen eine Welt, die in Unordnung gerät, und den Weg, der gegangen werden kann, um Ordnung herzustellen. Es erzählt von einem König und einer Königin, einem goldenen Reich, das der Held oder die Heldin verlässt oder verlassen muss, um schweren Prüfungen oder Demütigungen ausgesetzt zu werden, um letztendlich mit seinem Partner oder seiner Partnerin ein eigenes, neues Königreich zu gründen. Viele Märchen erzählen ebenso wie die Mythen von einem Abstieg, aber auch von einem Aufstieg. Sie erzählen vom Übergang, einer Vollendung, die der Erneuerung bedarf, zu einer neuen Vollendung, denn Entwicklung ist eine stetige Bewegung, in vielen kleinen Schritten, einem in weiter Ferne liegendem Ziel zu.
Märchen erzählen abenteuerliche Geschichten von Verzauberung und Erlösung, Drachenkämpfen, Armut und Reichtum in eindringlichen Bildern. Gelingt es uns, dieser Universalsprache mit Verständnis näher zu kommen, können wir erkennen, was Märchen sagen wollen. Sie sagen uns, wer wir sind, woher wir kommen und wohin wir gehen. Sie zeigen, was wir bewirken und verwirken können, erzählen vom Gelingen und Versagen. Sie geben uns Auskunft darüber, wie wir auf Krisen nach Enttäuschungen und Scheitern reagieren oder wie wir mit der Freude und dem Erfolg umgehen sollen. Sie zeigen uns unsere Verletzlichkeit und unsere besonderen Aufgaben. Sie entfalten das ganze bunte Spektrum unserer seelischen und geistigen Qualitäten, verkörpert in den handelnden Personen, die gemeinsam das Bild einer Persönlichkeit, ergeben.
Bindeglied zweier Welten
Märchen sind ein Schlüssel zu den geistigen Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen. Sie nähren unsere Suche nach der Wahrheit, nach den Gesetzmäßigkeiten alles Lebendigen. Sie sind ein Bindeglied zweier Welten, der sichtbaren und unsichtbaren. Im Märchen stehen diese beiden Welten auf einer Ebene. Im Hier und Jetzt sind diese Welten aber getrennt von einem tiefen Graben. Will man ihn überwinden, kann man einen Übergang finden, eine Hängebrücke, die über diesen Abgrund schwebt, um in der Bildsprache zu bleiben. Wir erkennen darin die Tragik des modernen Menschen. Viktor von Weizäcker, der Begründer der Psychosomatik sagt in seinem Buch „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ dazu „:….hier ist die Rede davon, dass in der Tat nur eine atheistische Wissenschaft vor dem Forum der Gewissenhaftigkeit Bestand hat, die uns im Laboratorium ehrlichstes Gesetz ist…Wo aber kommt der religiöse Mensch hin, der in dem Augenblick, da er sein Laboratorium betritt, mit Hut und Stock auch seinen Gott an den Nagel hängt?“
Dieser Übergang des Intellektualbewusstseins zu einem kosmischen Bewusstsein, der sichtbaren und unsichtbaren Welt, wird in Froschkönig, Dornröschen, Die sieben Raben unter anderem geschildert. Im Froschkönig ist die goldene Kugel, die in den tiefen Brunnen fällt Bild für den Verlust der kosmischen Weisheit. Die Königstochter muss diese Tiefen in Gestalt des Frosches akzeptieren und ihn erlösen. Dann kann sie mit einem Königsohn gemeinsam in sein Reich fahren. Dornröschen schläft für die kosmische Weisheit ein und muss von der Kraft des höheren Ich wachgeküsst werden.
Sonderung und Neuverbindung – der Weg zur freien Persönlichkeit
Die Involution, die Menschwerdung, der Übergang vom Geistwesen zum Erdenbewohner, das Zerbrechen der Einheit der Welt durch den Sündenfall, der Sonderung, zeigen andere Märchen. Sie zeigen das Leiden und die Prüfungen die diese Sonderung hervorruft, die, wenn sie ganz durchlitten ist, in eine neue Harmonie führt. Hänsel und Gretel, Allerleirauh, Fundevogel erzählen uns davon.
Die Übergänge in den Entwicklungsstufen der Erde in Pflanzen-, Tier- und Menschenreich, die spannende Evolution, schildern in ihrer Vielfalt und ihren Problemen Märchen wie Aschenputtel, Brüderchen und Schwesterchen, Die drei Männlein im Walde, Frau Holle, Die Gänsehirtin am Brunnen, Schneewittchen. Sie zeigen wie der innere lichte Teil des Menschen von der materialistisch ausgerichteten Welt missachtet wird. Demütig und beharrlich entfaltet er sich um das Ziel der Evolution, das „Transparentwerden des Erdenmenschen für den Schöpferlogos“ (Arthur Schult) zu erreichen.
Der Übergang der Gruppenseele zu einem Persönlichkeitsbewusstsein, das Herauslösen des Individuums aus altem Stammesbewusstsein zeigen Die Gänsemagd, Der Wolf und die sieben jungen Geißlein, und Rotkäppchen. Das alte Wissen, die Weisheit der Ahnen erfährt eine Verdunkelung und muss einem neuen Ichbewusstsein weichen. Nicht mehr Herkunft und Familie sind bestimmend, sondern der individuelle mutige Weg und die Erfahrungen lassen die freie Persönlichkeit reifen.
Das und vieles mehr erzählt uns das Märchen von Übergängen, Erneuerungen, Weiterentwicklungen und gibt uns Hinweise, wie wir unser Denken, Fühlen und Wollen einsetzen um den Weg zu finden, der an ein Ziel führt das dem Wohl der Menschheit dient.
Literatur: Erzähl mir ein Märchen, Christa Horvat, BoD; Mysterienweisheit im deutschen Volksmärchen, Arthur Schult, Turm Verlag
„Erzähl mir ein Märchen“ von Christa Horvat ist ein Buch das Herkunft, Definition und Bedeutung der Märchen und deren Bildsprache beleuchtet. Es werden 22 Märchen gedeutet und besprochen, alle jene also die in der „Märchenbühne der Apfelbaum“ aufgeführt werden.
Fotos der Inszenierungen bringen Farbe ins Buch und eine Literaturliste gibt Anreize sich noch mehr in dieses Thema zu vertiefen.