Text: Norbert Liszt, Wien
Ein interessantes Phänomen entsteht, wenn ein Gegenstand von zwei unterschiedlichen Lichtquellen beleuchtet wird. Bekannt ist, dass jedes beleuchtete gegenständliche Objekt Schatten wirft und dass dieser Schatten eine Verdunklung des Lichts ist. Er wird zumeist in Grautönen wahrgenommen.
Wird aber dieser Gegenstand von Lichtern bestrahlt, die unterschiedliche Färbungen haben, wenn einerseits normales Tageslicht auf ein gefärbtes, zum Beispiel gelbes Licht, trifft, dann zeigt sich ein blauer Schatten. Man spricht dann nach Goethe vom „farbigen Schatten“. Da aber zwei Lichtquellen vorhanden sind, gibt es auch zwei Schatten. Der zweite erscheint in gelber Farbe und wird „gefärbter Schatten“ genannt.
Dieses Phänomen ist sehr leicht nachvollziehbar. Stellt man eine Vase oder ein anderes Objekt auf einen Tisch, auf den das Sonnenlicht fällt, wird man zunächst einen grauen Schatten wahrnehmen. Wenn man nun die Vase von der anderen Seite her mit gelbem Licht bestrahlt, wird sich das oben beschriebene Phänomen zeigen. Das gelbe Licht verursacht auf der Gegenseite einen blauen Schatten, der Schatten des Sonnenlichts erscheint gelb (siehe Foto).
von rechts: Tageslicht, von links: gelbes Licht, rechts: der eine, links: der andere
Wenn man dieses Phänomen auf menschliche Seeleneigenschaften überträgt, kann man folgende Erkenntnisse gewinnen:
Ein Mensch bildet sich eine Meinung zu einer bestimmten Angelegenheit. Ein anderer Mensch ist gegenteiliger Meinung. Wenn diese beiden Meinungen in einem Gespräch aufeinandertreffen, kann das mitunter zu einem langen Diskurs führen, in dem die beiden Gesprächspartner ihre Meinungen verteidigen. Gelegentlich mündet ein solches Gespräch in einen Streit. Der Diskurs wird aber in den beiden Menschen Spuren hinterlassen und der eine oder andere wird vielleicht erkennen, dass er voreilig geurteilt hat und schließlich seine Meinung korrigieren und möglicherweise sogar zu einer tieferen Einsicht kommen.
Warum kann die obige Darstellung der verschiedenfarbigen Lichter mit dem Beispiel der beiden Gesprächspartner verglichen werden?
Der Gedankenprozess ist etwas Lichtvolles, Geistiges. Das kommt in dem Satz zum Ausdruck: „Das leuchtet mir ein!“ Gedanken sind also geistige Formen, die mit leiblichen Sinnen nicht wahrnehmbar sind. Aber der Mensch bildet seine Gedanken gemäß den Wahrnehmungen, die er der sinnlichen Welt entnimmt. Auf diese Weise wird der Inhalt (der Gegenstand) des Denkens zum Schattenwerfer. Folglich werden Lebendigkeit und Lichthaftigkeit der Gedanken gedämpft. Sie werden schattenhaft. Das muss aber nicht so bleiben. Jeder Mensch hat das Potential, sein Denken zu verlebendigen und zu erhellen.
Dementsprechend kann man die Gedanken des einen als Licht betrachten, das den Gegenstand der Diskussion bestrahlt. Bliebe er starr bei seiner Meinung, hätten die Gedanken des anderen, die eine andere Färbung haben, wenig bis keine Wirkung. Der Schatten seines Gedanken-Lichtes als Bild seiner Meinung bliebe grau. Doch wenn er die Gedanken des anderen in sein Gemüt aufnimmt, dann bekommen sie Farbe. Das Licht der Gedanken des anderen tritt als farbiger Schatten auf.
Auf das obige Beispiel bezogen, sind die Gedanken des anderen das gelbe Licht, welches auf den Gegenstand (das Thema) der Diskussion strahlt und einen blauen Schatten wirft. Es erzeugt also die Gegen- bzw. Komplementärfarbe. Das wiederum erhellt die unklaren Gedanken des einen. Der graue Schatten, den das Licht seiner Gedanken auf den Gegenstand wirft, wird erhellt und bekommt eine gelbe Färbung (gefärbter Schatten). Seine Erkenntnis erscheint in einem neuen Licht.
Es besteht die Neigung, Erfahrungen nach seiner eigenen Art zu beurteilen und sie als seinen Besitz betrachtend zu verteidigen. Im Gespräch mit anderen werden voreilig gefasste Ideen einer Prüfung unterzogen. Dadurch werden Phänomene sichtbar die man übersehen hat. Die Ansichten anderer zu überdenken, führt zu einer satteren Erkenntnis und ermöglicht, seine Urteile zu ergänzen oder zu korrigieren.