Licht und Schatten

Text: Wolfgang Schaffer

Rudolf Steiner hat der Menschheit ein unvergleichlich reiches, ja gewaltiges Lebenswerk hinterlassen. Er ist im März des Jahres 1925 in die Welt zurückgekehrt, aus der er so unaufhörlich neue Impulse für die gedeihliche Weiterentwicklung der Zivilisation auf der Erde übermitteln konnte. Die Gründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der von ihm geschaffene Menschheitsrepräsentant sind ein stiller Aufruf an die Übernahme der Verantwortung und die Eigentätigkeit künftiger Generationen.

Der Weg der Mitte

Man kann das Leben und Wirken Rudolf Steiners aus der Distanz eines ganzen Jahrhunderts als den Sonnenaufgang einer methodisch entwickelbaren Erweiterung des menschlichen Bewusstseins bezeichnen. Es wird dadurch empfänglich für die der Zeit notwendigen Offenbarungen der geistigen Welt. Er selber hat sich immer als einen Forschenden betrachtet, der seine gewonnenen Erkenntnisse nicht aus persönlicher Willkür oder eigenem Interesse der Welt mitteilen wollte. Er sah sich dazu beauftragt und handelte stets im Bewusstsein seiner ganz persönlichen Verantwortung der geistigen Welt gegenüber. Nichts durfte verschwiegen werden, was zur regelmäßigen Weiterentwicklung der Menschheit notwendig gesagt werden musste. Nichts durfte mitgeteilt werden, wozu die notwendigen Voraussetzungen noch nicht vorhanden und erst geschaffen werden mussten. In den Strahlen des Lichtes der von ihm begründen Anthroposophie als Geisteswissenschaft zeigt sich der Ursprung und das Ziel der Entwicklung von Mensch und Erde im großen Zusammenhang. Es handelt sich nicht bloß um die gegenwärtig zivilisatorisch angestrebte Dauerüberlebensfähigkeit unter den herrschenden materiellen Bedingungen. Es geht um die Verwirklichung der durch irdische Erfahrung bereicherten und zur inneren Reife gelangten menschlichen Individualität in den Dimensionen von Freiheit und Geist. Der Weg zu dieser Verwirklichung führt durch das Licht der Erkenntnisse, die auf den Forschungswegen der Anthroposophie gewonnen werden können. Im Schatten dieser von Rudolf Steiner entzündeten gewaltigen Lichtquelle steht nun alles, was nicht seinem Ursprung und seinem Ziele nach dem Geist im Menschen und im Weltall direkt dienen kann. Dieser Dienst am Geist bedeutet ganz konkret, die Erde als Schauplatz unseres Lebens weder zu fliehen noch ihr zu verfallen. Es geht vielmehr darum, die Erde zu ergreifen, sie zu durchdringen und so weit zu verwandeln, bis sich der ihr zugrunde liegende schöpferische Geist in Form von menschlichen Erkenntnissen erschließt. Die beiden Gegensätze Erdenflucht und Erdensucht können in den von Rudolf Steiner geprägten Begriffen auch mit den Namen zweier geistiger Wesenheiten gleichgesetzt werden. Diese Namen sind Luzifer und Ahriman. Ihnen kommt eine unvergleichlich bedeutende Rolle in der Entwicklung der Menschheit zu. Sie bilden den Hintergrund, auf dem sich der Mensch die Freiheit und sein Geistbewusstsein erobern kann. Dazu gehört das Risiko, einer der beiden durch Luzifer und Ahriman gegebenen Verführungen zu verfallen. Beide Kräfte entfalten im Irdischen eine Wirkung auf den Menschen, die über das ihnen ursprünglich zustehende Ausmaß hinausgehen. Sie wirken auf ihn «böse» in dem Sinn, dass sie seine Entwicklung zu ihren eigenen Gunsten beeinflussen. Das geschieht dadurch, diese Entwicklung zu früh anzuregen oder erst mit Verzögerung zu spät zu ermöglichen. Luzifer will die Menschen glauben machen, sie wären schon am Höhepunkt ihrer Möglichkeiten angelangt, wenn sie sich nur seiner Führung überlassen. Tatsächlich ist der Mensch an dieser Stelle aber doch noch weit von seinen wahren Möglichkeiten entfernt und kann somit von Luzifer mit Leichtigkeit auch weiterhin beherrscht bleiben. Ahriman will den Menschen davon überzeugen, es wäre alles schon zu spät; er müsse gar nicht erst beginnen, sich selber um Entwicklung zu bemühen. Die Technik wird sich um die Lösung seiner Fragen kümmern! Der Weg, der zwischen diesen Polen in der Mitte liegt, wird von Rudolf Steiner mit dem Namen und der Wesenheit des Christus angesprochen. Dieser Weg beinhaltet die notwendige Übernahme der Verantwortung des einzelnen Menschen für sich selbst und für die Erde als einer lebensvollen Ganzheit. Aus der scheinbaren Ohnmacht den Widerständen gegenüber gelingt der eigene Weg im Bewusstsein der helfenden Begleitung durch die geistige Welt und durch den Christus. Dieser sagt von sich ja selbst bekanntlich im Evangelium des Johannes «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.» Wer das wahre Gleichgewicht im Weiterschreiten zwischen den verlockenden Kräften von Flucht und Sucht, von Entzündung und Erstarrung, von Lösen und Binden findet, geht seinen Weg mit Christus. Wer mit ihm wandelt, wird von seinem Geisteslicht zu immer neuem Geisteslicht geführt.

Licht und Schatten

Wo so viel Licht erstrahlt, muss es doch tiefe Schatten geben? Diesem Prinzip entsprechend gibt es dem allgemeinen Zeitgeist der Kritik zu Folge ganz starke Bemühungen, die negativen Seiten der Persönlichkeit Rudolf Steiners und seiner Initiativen aufzuzeigen. Trotz unermüdlicher Wiederholung unhaltbarer Vorwürfe ist der Nachweis negativer Wirkungen der Anthroposophie auch nach hundert Jahren kaum wahrnehmbar gering. Tausende eigenständige soziale, pädagogische und wirtschaftliche Initiativen in allen Kulturen und sozialen Schichten weltweit bezeugen den menschheitlichen Charakter der Anthroposophie. Im Gegenteil hat sich nahezu alles, was von Steiner konkret vorausgesagt wurde, mit erschreckender Genauigkeit bisher erfüllt. Beispielhaft sei hier nur die Krise der industriell betriebenen Landwirtschaft mit ihrer katastrophalen Auswirkung auf die Gesundheit von Erde und Menschen genannt. Ein Gleiches betrifft seine Beschreibung eines weltumspannenden, elektronischen Netzwerkes, das die Erde spinnenwebengleich bedecken wird. Die Vorhersage der Möglichkeit, die Erde zu einem Maschinenplaneten zu machen, zeigt sich an den Plänen des «Internet der Dinge» immer aktueller. Steiner blieb aber nicht bei der Beschreibung von ihm vorhersehbarer Gefahren für die Menschheit stehen. Er gab auf Anfragen hin unerschöpflich fruchtbare Hinweise zu Entwicklung geistgemäßer Lebensformen und Kulturimpulse. Seine Einsicht in die Wirklichkeit der höheren Welten beinhaltet für unsere Zeit die Notwendigkeit, dem sogenannten «Bösen» zu begegnen und es vollbewusst zu einem «Guten» zu verwandeln. Das «Böse» ist mit uns verbunden wie der Schatten, den wir werfen, wenn wir von einer Lichtquelle rein äußerlich beleuchtet werden. Jede Nacht ist eigentlich nichts Anderes als das Eintauchen in den Schatten, den die vom Sonnenlicht bestrahlte Erde selbst in den sie umgebenden Weltraum wirft. Der Blick von der Erde auf den Sternenhimmel erfolgt aus dem Schattenwurf der Erde heraus. Nun gibt es die bekannte Frage «Wer kann schon über seinen eigenen Schatten springen?» Sie wird rhetorisch oft gestellt, wenn es darum geht, das Mangelhafte im gewohnheitsmäßigen Verhalten eines Menschen zu entschuldigen. Offensichtlich ist das unmöglich, da der Schatten selbst jeder Bemühung zum Trotz doch immer mitspringt! Doch gibt es einen Weg, sich von seinem Eigenschatten loszulösen. Theoretisch muss man sich nur schneller als das Licht bewegen, um seiner schattenwerfenden Wirkung zu entkommen. Praktisch löst man seinen Schatten auf, indem man selber Licht in sich erzeugt. Man überwindet seinen Schatten dann nicht durch einen Sprung, sondern man entzieht sich ihm durch lichte Eigentätigkeit. Das schafft der Mensch, der dem Licht von außen sein eigenes, inneres Licht entgegenbringen kann. Was an ihm bisher den Schatten warf, löst sich dann auf, da die bisherige Undurchdringlichkeit den Widerstand verliert. Licht ist an sich unsichtbar. Nur dort, wo ihm der Widerstand eines dichteren Elementes entgegentritt, erlangt «Etwas» – das somit Beleuchtete – die Sichtbarkeit. Wir sehen dann die Grenzen dieser Dichte hell beleuchtet als das Licht. Was wir so als «Licht» bezeichnen, ist eigentlich schon die Wirkung einer Tätigkeit, die zum Erliegen kommt. Licht im Ursprung ist ein unsichtbares Streben. Wird es an seinem Willen Raum zu werden durch dichtgewordene Trägheit in Form von Materie gehindert, leuchtet es daran erlöschend auf.

Die Christusgruppe

Der Menschheitsrepräsentant, Foto: Duilio Martins / Goetheanum Dokumentation

Ein ganz besonderes, unvollendet gebliebenes Werk Rudolf Steiners ist der von ihm in Zusammenarbeit mit der Bildhauerin Edith Maryon geschaffene «Menschheitsrepräsentant.» Die Namensgebung sollte über diese Bezeichnung hinaus ganz dem Betrachtenden überlassen bleiben. Die Ansicht, dass es sich bei der aus vollem Holz geschnitzten, monumental nach vorwärts schreitenden Gestalt mit dem Antlitz eines Menschen um die Darstellung des Auferstandenen handelt, wird bisher allgemein geteilt. Es ist damit das auf der Erde in die Zukunft schreitenden Christuswesen dargestellt. Der Menschheitsrepräsentant zeigt seine menschliche Gestalt in aufrechter Haltung. Sein Antlitz ist frei nach vorne gerichtet, der Blick strahlend geradeaus, das Haupt nach vorn geneigt, ein geschlossenes Kleid bedeckt den gesamten Leib. Arme, Finger, Beine und Füße sind im Vorwärtsschreiten dargestellt. Der rechte Fuß ist vorangestellt, der rechte Arm nach unten zur rechten Fußspitze hinausgestreckt. Die Finger sind zur Dreiheit aufgespreizt. Daumen – Zeige und Mittelfinger – Ringfinger und kleiner Finger – bilden jeweils einen Strahl. Dabei sind diese Strahlen noch in sich geknickt. Eine Geste, die ganz einzigartig in der gesamten Kunstgeschichte ist! Der linke Arm ist hocherhoben über und hinter den Kopf gespannt. Der linke Fuß bleibt leicht lastend zurückgestellt. Es ist damit die Menschheit in ihrer Entwicklung dargestellt. Sie hält in ihrem Schreiten das Gleichgewicht und ist zugleich auch schon auf die Zukunft hin ausgerichtet. Eine neue Mitte ist im Gleichgewicht von oben – unten, vorne – hinten, links und rechts im Werden. Vergangenheit wird durch bewusstes Schreiten in die Zukunft umgewandelt. Dieser Mensch tritt lichthaft vor. Er schreitet aktiv voran aus einem Hintergrund, der in sich zusammenkrampft. Der Menschheitsrepräsentant ist Ausdruck einer Kraft, die sich selbst als «Licht der Welt» benennt. Es ist die Christus – Wesenheit, die sich als Bindeglied für jedes Menschen ICH durch ihre Liebestat auf Golgatha mit der Erde und allem Leben auf der Erde untrennbar verbunden hat. Dieser «Menschheitsmensch» ist als Skulptur umgeben von einer Welt, in der auch die schon skizzierten Wesenheiten Luzifer und Ahriman ihr Dasein haben. Sie gliedern sich entlang einer Diagonalen von vorne rechts unter dem schreitenden Christus nach links oben über dem gestreckten linken Arm des Christus. Zur linken Seite hin zeigt sich eine Leere, an der rechten Seite berühren sich die genannten Wesenheiten in einer zweiten Ausarbeitung von oben und unten in einer eigentümlichen Verbundenheit. Von ganz oben Links herab betrachtet noch ein ganz besonderer Gast mit einem schelmenhaften Lächeln das gesamte Geschehen. Es ist der Weltenhumor, der scheinbar nirgends fehlen darf! Alle Gestalten rund um den Menschheitsrepräsentanten sind ohne die überragende Aufrichtekraft des Christuswesens in Szene gesetzt. Rudolf Steiner hat die Interpretation der dargestellten Situation ganz dem Eindruck und der Wirkung des Kunstwerkes auf den Betrachter selbst überlassen. Die Skulptur des Menschheitsrepräsentanten sollte ganz im Osten des Bühnenraumes des ersten Goetheanum zur Aufstellung kommen. Den tragischen Ereignissen des Goetheanumbrandes in der Silvesternacht des Jahres 1922 entging das Kunstwerk wie durch ein Wunder. Seinen ursprünglich vorgesehenen Platz im Bühnenraum des zweiten Goetheanumbaues hat es bis heute nicht erhalten. Vielleicht ist das auch ein Bild der Situation, in der sich die Anthroposophie im Jubiläumsjahr 2023/24 zivilisatorisch aktuell befindet. Die Impulse der Anthroposophie haben hundert Jahre sehr erfolgreich überlebt. Sie stehen jedoch noch außerhalb des Interesses der Mehrheit der Bevölkerung. Die realen Möglichkeiten der spirituellen Erneuerung unserer gesamten menschheitlichen Kultur sind bisher durch die Impulse der Anthroposophie nur keimhaft angelegt. Ihr weiteres Wachsen, Blühen und Gedeihen sind mit großer Hoffnung vorhersehbar und insgesamt wahrscheinlich nicht mehr aufzuhalten. Ihre Früchte werden uns in Zukunft nähren. Ganz im Gegenteil dazu scheint die Welt seit Beginn des Jahres 2020 geradezu unterzugehen! Die Kräfte, die dabei ganz im Umkreis und im Hintergrund des Weltgeschehens ihre Wirkung zeigen, entladen sich derzeit in tiefgreifenden, kriegerischen Konfrontationen. Sie entsprechen den Verkrampfungen im Umkreis der Skulptur Menschheitsmenschen. Das Zusammenbrechen alter Ordnungen ist unvermeidlich, da sie überwiegend aus der Vergangenheit begründet sind. Die Zukunft gehört in jedem Fall dem aktiv, frei und aufrecht Weiterschreitenden!

Ein Wahrspruchwort Rudolf Steiners gibt dazu eine besondere Orientierung.

«Finsternis, Licht, Liebe.

Dem Stoff sich verschreiben, heißt Seelen zerreiben.

Im Geiste sich finden, heißt Menschen verbinden.

Im Menschen sich schauen, heißt Welten erbauen.»

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