Ich werde, unserem Leitthema entsprechend, den 19. Vortrag dieses Buches vorstellen. Thema des Vortrags, gehalten am 17. Juni 1909: „Evolution, Involution und Schöpfung aus dem Nichts“.
Der Mensch erlebt mehrmalige Geburten.
Bei der physischen Geburt streift er die leibliche Mutterhülle ab. Danach ist das Kind noch eingehüllt in eine zweite, die ätherische Mutterhülle.
Mit dem Zahnwechsel, etwa im siebenten Lebensjahr, erfolgt die zweite Geburt, die Geburt des Äther- oder Lebensleibes. Nun ist es noch eingehüllt in die astralische Mutterhülle, die mit der Geschlechtsreife abgestreift wird. Der damit geborene astralische Leib entwickelt sich bis zum einundzwanzigsten Lebensjahr.
Etwa um diese Zeit ist der geistige Kern des Menschen, das Ich reif, geboren zu werden. Das Ich ist von Anfang an anwesend, nur ist es zunächst noch unfrei eingehüllt in die drei Mutterhüllen. Nach der Ich-Geburt wird der Mensch fähig, sich selbst zu führen und seinem Wesen gemäß zu urteilen und zu handeln.
Wir erfahren, dass es unterschiedliche Lebenswelten gibt, welche die menschliche Existenz begleiten. Das eine ist das Leben in Involution, das andere jenes in Evolution. Involution bedeutet direkt übersetzt Einwicklung und Evolution Auswicklung oder Entwicklung. Die Involution, erklärt Rudolf Steiner, ist ein Zustand in dem wir von Hüllen (Mutterhülle, Ätherhülle, Astralhülle, Welten-Ich) umkleidet sind, die formend auf uns einwirken. Die Evolution hingegen ist ein Hinausbewegen, indem eine Essenz der jeweiligen Hüllen in uns eingesogen wird. Diese Essenzen werden mit unserem Wesen verbunden und bilden die Hüllen, mit denen sich unser Ich bekleidet. Unser Wesen kann mit ihrer Hilfe weiterentwickelt werden. Sie gehören damit zum Eigensein des Menschen, der diese Hüllen seinem Wesen entsprechend nun umformen kann und fähig ist, sein Leben zu bereichern.
Man kann dieses Geschehen mit der Metamorphose eines Schmetterlings vergleichen. Nachdem sich der Köper der Raupe genügend ausgestaltet hat, begibt sich die Raupe ins Puppenstadium. Sie wickelt sich ein in den Kokon. Ihre Körpergestalt löst sich auf und eine andere Gestalt beginnt sich zu bilden. Mit der Ausreifung dieser neuen Gestalt wird die Puppenhülle abgestreift und der Schmetterling wird frei, um sich in die Lüfte zu erheben.
Im Vergleich mit dem Tierleben, das ein Ausleben der Gattungsnatur ist und mit der Reproduktion seiner Art den Endzweck seines Daseins erreicht, kommt beim Menschen etwas Entscheidendes hinzu. Der in das menschliche Wesen einziehende geistige Teil, das Ich, ist der Teil, der erzogen werden kann. Das bedeutet, dass der Mensch nicht nur ein Gattungswesen ist, das seine Art nach vorbestimmten Entwicklungstatsachen auslebt. Durch seinen geistigen Wesenskern ist beim ihm eine Erziehung anwendbar. Es kann aus ihm etwas anderes werden, als das was er seiner Anlage nach ist. Es kann aus dieser Anlage etwas herausgezogen werden, das seinem Leben einen neuen Einschlag gibt und ihn verwandelt. Mit seiner Reifung wird er fähig zur Selbsterziehung. Der Mensch befähigt sich zur Selbstgestaltung und sogar zur Mitgestaltung des Weltgeschehens. Er kann sich selbst und die Welt weiterentwickeln.
Bei uns Menschen kann man also neben Involution und Evolution von einem Dritten sprechen. Wir bleiben nicht nur beim Bestehenden und wiederholen es fortwährend, sondern können unser Dasein darüber hinausführen. Wir können es erhöhen. Rudolf Steiner nennt diese Befähigung „Schöpfung aus dem Nichts“. Menschen sind in der Lage bestehende Tatsachen in ein neues Verhältnis zu bringen.
Rudolf Steiner bringt als Beispiel einen Diebstahl: Man weiß nichts von der Persönlichkeit des Diebes und weiß nicht, was und wie es tatsächlich geschehen ist. Die Ermittler müssen sich aus diversen Indizien die Umstände zusammenstellen, die den Beweis liefern können, dass eine bestimmte Persönlichkeit der Dieb ist. Es kommt dabei eine Logik zur Anwendung, die in ein Urteil mündet. Dieser Vorgang läuft ganz im Inneren der Ermittler ab und wird den Tatsachen zugestellt, die äußerlich da sind.
Das sind (Zitat) „Erlebnisse der Seele, die nicht durch Tatsachen, sondern durch Beziehungen zwischen Tatsachen, die man sich selber herausbildet, entstehen. … Das Leben zerfällt wirklich in zwei Teile, die ohne Grenze ineinanderlaufen: in solche Erlebnisse, die streng durch frühere Ursachen, durch Karma bedingt sind, und in solche, die nicht durch Karma bedingt sind, sondern neu in unseren Gesichtskreis hereintreten“.
„Der Mensch entwickelt sich heraus aus früheren Ursachen, er streift das ab“. Er kann immer mehr das aufnehmen, was aus Verhältnissen stammt, die vorher nicht da waren, die er selber hergestellt hat. Nach und nach kann er abwerfen, was ihm die Götter gegeben haben und das in sein Wesen aufnehmen, das er sich selber erarbeitet hat, was er aus dem Nichts gebildet hat. Dadurch dass sich zur Involution und Evolution die Schöpfung aus dem Nichts dazugesellt, schafft er sich eine neue Wesenheit.
„Die anthroposophische Weltanschauung schafft dem Menschen Lebenskräfte, Lebenshoffnung, Lebenszuversicht, denn sie zeigt ihm, dass er mitarbeiten kann in der Zukunft an Dingen, die heute nicht nur im Schoße der Ursächlichkeit, sondern im Nichts liegen, sie stellt ihm in Aussicht, dass er, im wahren Sinne des Wortes, vom Geschöpf zum Schöpfer hinarbeitet“.
Rudolf Steiner, GA 107, Neunzehn Vorträge, gehalten in Berlin zwischen dem 19. Okt. 1908 und 17. Juni 1909
ISDN 978-3-7274-1071-0, gebunden € 63,80, TB 669 € 19,40
Norbert Liszt