Text: Wolfgang Schaffer
«….und als der König aus seinem Traum erwachte, wusste er nicht mehr recht, ob er in Wirklichkeit ein Schmetterling sei, der in Schlaf versunken soeben träumte, er wäre König; oder aber doch ein König, von seinem Traum als Schmetterling wieder erwacht!»
Zuletzt erwacht ICH BIN?
Die Erzählung von dem traumerwachten König aus dem Morgenland ist in vielen Variationen weltbekannt. Es geht dabei um ein Gewahrwerden dessen, was wir in Wirklichkeit sind. Als Wirklichkeit gilt uns hauptsächlich das, was wir als «Erscheinung für die Sinne» wahrnehmen und durch entsprechende Begriffe gedanklich zu Erkenntnissen ergänzen. Dazu gehört eben auch die begriffliche Bestimmung dessen, was wir von uns selber in Form des Ich als Selbstbezeugung wahrnehmen. Dabei liegt es auf der Hand, dass sich die endgültige Lösung des Rätsels unserer Existenz mit jedem neuen Lebensaugenblick in die Zukunft verschiebt. Der jeweils Letzterwachte – König oder Schmetterling – bestimmt die Wirklichkeit. Selbsterkenntnis ist so betrachtet ein prinzipiell offenes System, das sich unerschöpflich um die gegenwärtig fragende Instanz erweitert. Ganz praktisch lässt sich das Gleichnis von Traum und Wirklichkeit dadurch lösen, dass die nach Wirklichkeit fragende Tätigkeit unmittelbar vor dem Erreichen des Erkenntniszieles in Form eines bestimmenden Begriffes spontan innehält – um sich dann ganz unvermittelt und direkt auf sich selbst zu beziehen. Die Antwort lautet so erkundet nicht «Ich bin… der Schmetterling» und auch nicht «Ich bin… der König», sondern Ich bin….der «ICH BIN»!
An diesem Punkt von Selbsterkenntnis ist die Wahrheit Wirklichkeit. Worin könnte auch noch Irrtum liegen, wenn sich die erkennende Tätigkeit bedingungslos und unmittelbar nur auf sich selbst bezieht? Es ist der erste Flügelschlag in Freiheit, an dem der Fragende sich selbst erlöst von Formen, in die er sich bisher begrifflich fesseln ließ. Er ist dann nicht DIES oder DAS sondern reines SEIN in unbeschränkter Tätigkeit. Ein möglicher Vergleich zur weiteren Veranschaulichung bezieht sich auf das Wesen dessen, was als Licht die Welt durchdringt. Es macht die Gegenstände, auf die es trifft, erkennbar und bleibt doch selber dabei unsichtbar. Licht ist somit in Freiheit existent, solange es nicht an einem Widerstand gebunden sichtbar wird.
So lässt sich zu der beschriebenen Frage nach der Wirklichkeit des träumenden Schmetterlings oder des erwachten Königs auch wohl sagen, dass es im Rahmen der tradierten Erzählung abzuwarten bleibt, welche Instanz zuletzt erwacht. Löst man sich aus diesem Zusammenhang aber heraus und bezieht sich selbst als Träger des Bewusstseins in die Fragestellung ein, so findet man das eigene Selbst in den Dimensionen von Wachheit und Träumen zeitgleich wieder. Im Traume wachend, sowohl als auch im Wachen träumend ist dieses Selbst des Menschen im Zustand des ICH BIN präsent.
Berührung und Begegnung
Mit anderen Vorzeichen zeigt sich dieses Gleichnis ganz besonders aktuell in unserer Gegenwart. Wir sind als Staat im großen sozialen Zusammenhang eine Gemeinschaft von freien Individualitäten, die jeweils eigenverantwortlich denken und handeln und trotzdem gilt dazu auch simultan das rechtlich konstituierte Gewalt- und Machtmonopol des Staates. Es ist als „Recht des Stärkeren“ derzeit krisenhaft politisch motiviert und wirkt normierend bis in die Atmung sowie auch in das Ausmaß und die Art von Begegnung und Berührung des Einzelnen mit seiner Umgebung ein.
Wachen wir derzeit möglicherweise gerade aus einem Traum auf, der uns bisher in eine Welt hineingezaubert hielt, die es auf Dauer gar nicht geben kann? Aus dieser Perspektive befinden wir uns wieder in der Wirklichkeit, in der es ganz bestimmte Grundrechte des Einzelnen gegenüber institutionalisierter Gewalt und Herrschaft noch gar nicht gab. Menschen wurden als der Herrschaft unterworfene Sklaven, Leibeigene oder Lohnarbeiter auf dem Markt gehandelt und im Sinne einer Ware jahrhundertelang in ihrem Recht auf Eigenständigkeit gehindert. Zuletzt zeigte sich der ganze Schrecken dieser Wirklichkeit als Weltkrieg, der noch in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts wütete. Das einzelne Menschenleben wurde kriegsgerecht dem Machtanspruch der Staatsgewalt geopfert. Die Jahrzehnte seit damals waren Zwischenstufen, die dem Wiederaufbau, der Unterhaltung und der Verbesserung der Bedingungen unseres körperlichen Daseins dienten. Dazu wurden durch die Technik die drei Naturgewalten Elektrizität, Magnetismus und Kernkraft in eine handelbare Form gebracht. Zuletzt gelang der Schritt in die Manipulation von Lebensprozessen in Verbindung mit dem Einsatz von künstlicher Intelligenz. Jetzt sind wir durch die Krise wieder aufgewacht zum Kampf um das nackte Überleben. Der Traum vom schönen, lichten Leben eines Schmetterlings ist ausgeträumt, wir sind jetzt wieder König, der mit Waffen gegen seine Feinde streitet. Der Krieg gilt diesmal nicht den politischen und wirtschaftlichen Gegnern, sondern den Erregern von Erkrankung. Da diese Feinde der Gesundheit jedoch immer mit und in dem Menschen existieren, gilt der Kampf ganz offensichtlich und direkt auch ihm. Begegnung und Berührung sind ab jetzt die tödliche Gefahr! Der Ausdruck «Leibeigenschaft» bekommt in diesem «Königtum» wieder eine wortwörtliche Bedeutung. Der Leib des Einzelnen wird ihm «freiwillig» entzogen und zum Schutz der anderen von seiner neuen, nunmehr unsichtbaren Herrschaft mit neuen Eigenschaften begabt. Vielleicht gelingt es diesem gleichnishaften König, der jetzt um sein Leben und die Herrschaft bangt, sich durch die Erinnerung wieder an den Traum zu binden, in dem er sich nicht vor dem Tod zu fürchten brauchte, da er den Tod der Raupe schon durch das Puppendasein vor dem Flug als Schmetterling im eigenen Flügelschlagen überwunden wusste?
Doch andererseits sind wir dem Gleichnis folgend ja vielleicht der Schmetterling, der sein lichtes, luftiges, in Schönheit leuchtendes Blütenreich und seine darin liegende Bestimmung vergisst, weil er in Schlaf versinkt und sich dabei in einen wirren Traum verstrickt. Darin wird auch nun alles Leben als Gefahr erlebt, Berührung mit der Welt, die ihn umgibt, ist untersagt. Die Blumen, Pflanzen und auch seine Artgenossen sind wie er argwöhnisch und verschlossen auf der Hut vor Nähe, da sie sich vor Übertragung von unsichtbaren Todeskeimen fürchten. Da ein Leben unter diesen Bedingungen für den Schmetterling auch Ernährung und die Zeugung seiner Art verhindert, ist sein nahes Ende vorhersehbar. Eine Rettung aus diesem Alptraum kann für den Schmetterling nur in dem rechtzeitigen Erwachen zu seinen wahren Möglichkeiten als «Begegnungsheld» und Bindeglied zwischen Himmel und Erde liegen.
Blüte und Schmetterling
Für Rudolf Steiner gilt das Leben eines Schmetterlings als ein Wahrbild für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele. Wie sich ein Falter über die Entwicklungsstufen des Eizustandes zum Raupendasein und von da aus weiter durch den Scheintod der Verpuppung bis hin zur vollendeten Schönheit des Schmetterlings in einer Reihe von Metamorphosen entwickelt, ist auch der Weg der menschlichen Seele mit dem Tod des physischen Leibes nicht zu Ende. Im Vergleich zu dem Schmetterling zieht sich der Mensch mit seinem Tod dem Zustand der Verpuppung entsprechend aus seinem bisherigen Erdenleben zurück. Das Vergehen der irdischen Existenz ist aber mit dem Zerfall des Leichnams gleichzeitig auch der Beginn der geistigen Existenz in einer höheren Welt. Flügelschlagend löst sich die Seele aus der «Puppenhülle» ihres bisherigen irdischen Leibes und beginnt nun farbenprächtig ihren Weg in die Weiten der geistigen Welt. Es ist damit ein Wahrbild ausgesprochen, das die Leere und Trostlosigkeit der rein materiellen Weltauffassung auch in ihrer aktuellsten Form des Transhumanismus im Hinblick auf die Tatsache des Todes mildern und menschenwürdig ausgleichen kann. Soweit die Menschheit derzeit durch die Krise ihres Selbstverständnisses geht, ob sie sich als Tier oder digitalisierte Genmaschine verstehen soll, kann das Bild des Schmetterlings ebenfalls freilassend Haltekraft gewähren. Blüte und Schmetterling sind ihrer jeweiligen Wesenheit entsprechend doch nur als Einheit und in Berührung sinnvoll. Abgesondert voneinander müssen beide rasch zu Grunde gehen. So steht es auch mit dem Menschen selbst. Er ist als geistiges Wesen in einem irdischen Leib verkörpert, um sich schicksalsmäßig mit anderen Wesen und der Welt zu verbinden. Sein Auftrag ist mit Sicherheit Begegnung! Er ist dazu berufen, sich als geistig – seelisches und physisch – leibliches Wesen in die Berührung und Durchdringung von Materie und Geist einzuleben, um damit die Weltentwicklung in bewusster und verantwortlicher Weise fortzusetzen. Als Werkzeug dient ihm dabei auch eine Wissenschaft, die ihre Methode an den Gegenständen der äußeren Natur entwickelt und soweit objektiviert, dass sie damit ausgerüstet sich doch auch wieder der Erforschung geistiger Verhältnisse und Wesenheiten zuwenden kann. Damit sind auch der Auftrag und der Anspruch der Anthroposophie als Geisteswissenschaft gekennzeichnet. Sie spricht mit großem Ernst und auch mit Würde von der realen Existenz einer höheren Welt, aus der wir Menschen tatsächlich stammen und in die wir uns mit allen Lebewesen und Naturerscheinungen auch wieder hineinentwickeln. Das Leben auf der Erde dient uns als Ort des Lernens, das in Freiheit die Liebe wecken kann für alles, was wir weisheitsvoll geordnet und gestaltet im Zusammenhang der Welt erkennen können. So wie es Naturbereiche gibt, die am Freiheitsgrad gemessen tief unter dem Menschenwesen liegen, gibt es auch Wesenheiten in der geistigen Welt, die ihm bewusstseinsmäßig weit vorausgeschritten sind. Engelwesen kann man sie im Sinne ihres Auftrags nennen, Botschafter zu sein von Zielen, die dem Menschen aus der Zukunft schon entgegenleuchten. Ein solches Ziel liegt auch in der vollbewussten Begegnung mit all den Gegenkräften, die des Menschen Entwicklungsmöglichkeiten auf ihre eigenen Bahnen lenken wollen. Freiheit ist der Weg, der diesen Gegenmächten im Hinblick auf die Liebe mutig abgerungen werden muss. Als höchstes Vorbild darf in diesem Sinne der Menschensohn auf Golgatha und mit ihm auch jeder gelten, der selbst den Tod in Auferstehung siegreich, heilsam wandeln kann.
Ein Geheimnis der Natur
Schaue die Pflanze!
Sie ist der von der Erde
Gefesselte Schmetterling.
Schaue den Schmetterling!
Er ist die vom Kosmos
Befreite Pflanze.
Rudolf Steiner