Von der Inspiration [1]
Nur ein Anfänger von Engel
fliegt unterhalb der Wolken
(noch ist er in sich selbst nicht weit genug entfernt vom Menschen)
Wenn Deine Stirn ein Flügel streift,
ist’s einer von ihnen,
und Du stehst am Anfang
Erst kürzlich habe ich mit der 12. Klasse Kleists Über das Marionettentheater gelesen. In dieser kleinen Erzählung legt ein Tänzer seinem Gesprächspartner dar, wie wir als Menschen durch das Bewusstsein unser selbst geradezu gezwungen sind, unsere natürliche Anmut zu verlieren, und dass sie daher eher von einer Marionette erreicht werden könne, die über keinerlei, oder aber von einem Gott, der über unendliches Bewusstsein verfügt. Da der Mensch nun aber von dem Baum der Erkenntnis gegessen hat und das Paradies daher verschlossen und ihm, von einem Engel bewacht, verwehrt ist, so müsse der Mensch nun den weiten Weg der Erkenntnis um das Erdenrund antreten, um vielleicht, am Ende der Tage, eine Hintertüre ins Paradies wiederzufinden. Das wäre das letzte Kapitel der Menschheitsgeschichte.
Eine Schülerin meinte, dass es wohl seinen Grund gehabt haben wird, warum dieser Baum da wuchs, und wir als Menschen womöglich unserer Bestimmung folgten.
Durch Evas beherzten Griff nach dem Apfel können wir, so erklärt der Mythos, zwischen Gut und Böse unterscheiden. Unsere Urteils- und ethische Entscheidungsfähigkeit sind also das, was uns als Menschen auf Erden ausmacht.
Die Philosophin Hannah Arendt sieht in der Fähigkeit des Menschen, in die Welt eingreifen zu können, sie durch sein Handeln neu zu gestalten und zu verändern, ebenfalls eine zutiefst menschliche Charakteristik. Wir sind die Wesen, die die Schöpfung seit Anbeginn fortsetzen und immer wieder neu damit beginnen – also anfangen.
Durch Kant wurde das sapere aude zum Imperativ der Aufklärung – wage, zu wissen. Bediene dich deines Verstands. Bei Horaz folgt diesem Aufruf, Erkenntnis zu erlangen, noch incipe – handle danach. Und ich möchte in aller Bescheidenheit dazufügen – vergiss dabei nicht, dass Dein Herz mitdenken muss, soll’s gut werden, was Du tust.
Wie wichtig und immer unübersehbarer notwendig ist es, neu zu beginnen – im Umgang mit der Erde, die die Folgen unseres Handelns bald nicht mehr zu ertragen droht, in den Begegnungen von Menschen unterschiedlicher Herkunft, gegensätzlicher Überzeugung, unverhältnismäßig unterschiedlicher Möglichkeiten.
Wir kommen bei Gott nicht mehr in eine unberührte Welt. Wir sind abhängig von all jenen, die vor uns angefangen haben. „[…] Um eigenständige Individuen zu werden, müssen wir lernen, zu kommunizieren und zu interagieren – mit den anderen Menschen zusammen zu handeln. Nur so können wir eigenständig in Erscheinung treten. Handelnd und sprechend offenbaren die Menschen jeweils, wer sie sind […]. Die Freiheit des Menschen liegt darin, sich mit anderen austauschen zu können, denn nur dann ist die Möglichkeit des Miteinanders gegeben, das Tyrannei und Unterdrückung zu unterwerfen sucht.“ [3]
Die Welt ist weit besser, als wir oft denken. Dennoch machen mir die Verteilungsungerechtigkeit, Engstirnigkeit und offene Feindseligkeit im politischen Diskurs und menschgemachte Katastrophen Kopfzerbrechen und Herzweh. Da wünsche ich mir sehnlich einen Flügel, der mich streift, auf dass ich inspiriert werden möge, so anzufangen und einzugreifen in die Welt, die mich umgibt, dass meine bescheidenen Spuren Lichtspuren werden.
Und mitten in die Sorgen hinein stelle ich lächelnd fest – mich dürfte so ein Flügel vor Jahrzehnten doch schon einmal gestreift haben! Als ich für meine Kinder damals einen Waldorfkindergarten gewählt habe, wo sie ihre erste kleine Eigenständigkeit erleben sollten, begann ein Weg, der mich letztendlich dazu führte, selber Waldorflehrerin zu werden. Als solche fühle ich mich auch nach fünfzehn Jahren in ganz bestimmter Hinsicht noch als Anfängerin – als eine, die täglich neuer Inspiration bedarf. Begleite ich doch Jugendliche auf ihrem Weg ins „Heraustreten“ in die Welt. Wie sehr ist es mir ein Anliegen, dass sie ihr Wesen entfalten lernen, sich selber begreifen und ergreifen, das liebe- und verständnisvolle Miteinander als alltägliches Handeln erfahren, tatkräftig sich einsetzen lernen für das, was ihnen wichtig und richtig erscheint.
Dieses Anfangen, so meine ich, ist in die Waldorfpädagogik ja geradezu eingeschrieben. Vom ersten Schultag, was sage ich, vom ersten Kindergartentag an, pflegen und fördern wir doch die Begegnung der Kinder mit der Welt, und zwar zunächst mit der begreifbaren, ihnen nahen Welt. Wir wollen ihr Interesse an allem wachhalten, wecken, und ihnen mannigfache Möglichkeiten zur Verfügung stellen, sich mit ihrem ganzen Sein in diese Welt gestaltend zu stellen. Buddeln in Waldorfkindergärten die Kleinen unter Einsatz all ihrer Kraft im Garten, schnippeln sie neben den Pädagog*innen die Äpfel und kneten den Teig für ihr Jausenbrot, so erleben sie: Das habe ich geschafft! Davon können wir essen und satt werden und danken, dass alles so fein wächst für uns.
Und beschäftigen sich 11. Klässler*innen anhand von Parzival mit den da angeregten Themen, so bekommen sie im besten Fall einen ersten reflektierenden Blick auf ihre eigene Biografie, auf die Sinnhaftigkeit von der Anstrengung, ihre Bestimmung zu suchen und sie zu verfolgen, auf die Unausweichlichkeit des Scheiterns und dass es um das „Trotzdem“ geht, um Erkenntnis und Verantwortung. Es geht um Verantwortung sich selbst und anderen gegenüber. Ein Motiv, das noch einmal verwandelt in der 12. Klasse mit dem Faust bewegt wird, hier nicht mehr als im Endeffekt gelungener Lebensweg, sondern mit allen Brüchen und Schattenseiten und der Notwendigkeit der Erlösung durch die Kraft, die sich dem Destruktiven entgegenzustellen vermag – der Liebe.
Die Frage, die mich und alle, die an Waldorfschulen tätig sind, verbindet, ist: „Was will in diesem jungen Menschen werden? Was will seinen Ausdruck finden nach seinem ureigenen Wesen?“ So gesehen steht ein kleines Kind am Anfang seines Lebens eben auch nicht ganz am Anfang, sondern bringt bereits etwas Wesentliches, ihm selbst und uns allen, die wir es willkommen heißen, jedoch noch Unbewusstes mit.
Dieser unser Blick dreht den bildungstheoretischen Diskurs der letzten Jahre, wie mir scheint, immer radikaler um: Denn es soll nicht gefragt werden, was die Jugendlichen für die bestehende soziale Ordnung wissen und können müssen, sondern was sie aus sich heraus entwickeln können, damit sich in die Gesellschaft neue Kräfte einbringen, die diese neu zu gestalten vermögen.⁴
Diese neuen Kräfte werden allerorts gebraucht, soll es nicht enden, wie Mephisto im Prolog spitzzüngig meint: „[…] denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht; Drum besser wär’s, dass nichts entstünde.“ [4].
Das Umfeld, in dem sich das ethisch motivierte Urteilsvermögen ausbilden kann, das auf wohldurchdachten und in diesem Sinne aufgeklärten Gedanken beruht, haben wir als Waldorfpädagog*innen den jungen Menschen zu bieten. Dafür brauchen sie uns als Vorbilder, die selber diesen Weg ums Erdenrund beschreiten und nach Erkenntnis streben, die sie ermutigen, sich auch im wahrsten Sinne des Wortes wesentlich einzubringen.
Aus diesem Blickwinkel heraus lässt sich für mich die derzeitige Situation zumindest besser ertragen, denn ich bin in der glücklichen Lage und habe eine Möglichkeit, einen beherzten Biss in den Apfel zu tun, Eva und allen Nachfolgenden, die sich für Erkenntnis und menschliche Weiterentwicklung weit vor mir eingesetzt haben, zu danken, dass sie ihre Schritte getan haben. Und ich kann mich politisch, das heißt öffentlich und offensichtlich dafür einsetzen, dass freie Menschen ihren Weg in dieser Welt nach mir finden. Ob dies gelingt, bleibt mir größtenteils verborgen, und es braucht dafür bestimmt die Unterstützung von oben. Zumindest die Berührung eines Engels würde ich mir wünschen.
Das mag Hermann Hesse gemeint haben, als er die bekannten Zeilen schrieb, „ […] und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“ [5]
Ursula Kaufmann
Waldorfpädagogin, Deutsch und freichristlicher Religionsunterricht an der Oberstufe, Rudolf Steiner-Schule Wien-Mauer
[1] Kunze, Reiner
[2] N. Baratella, A. Lorenz, S. Maffeis, und J. E. Reichert: Hannah Arendt, S.4
[3] Ebda, S.4
[4] Goethe, Johann Wolfgang; Faust I, Vers 1339 ff
[5] Hesse, Hermann; Stufen