am Beispiel von Goethes Faust.
Text und Bild: Norbert Liszt
ΔΑΙΜΩΝ, Dämon
Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
J.W. Goethe
Es ist sehr deutlich, dass Goethe hier nicht einen bösen Dämon meint, sondern den Dämon, wie ihn Sokrates dargestellt hat – als göttliche Kraft oder Stimme, die den Menschen über sich hinausführen möchte.¹ Die obigen Goetheworte weisen darauf hin, dass ein jeder Mensch die Erde mit bestimmten Charaktereigenschaften betritt, nach Gesetzen, die er mit dem Kosmos „ausgehandelt“ hat. Dieses Gesetz ist auf seine Individualität zugeschnitten und er wird es sein ganzes Leben lang in sich tragen. Es ist das Dauernde im wandelnden Entwicklungsgang. Da er sich dieses Gesetz als Wesen, das im organischen Verein mit der geistigen Welt lebt, selbst auferlegt hat, wird es stets in ihm regsam bleiben. Eine Stimme in ihm möchte ihn immer auf dieses Gesetz aufmerksam machen. Im irdischen Lebenslauf trennt er sich allmählich ab von der kosmischen Geistverbundenheit und vergisst, auf diese Stimme zu hören und sie zu verstehen. Doch er kann diesem Gesetz nicht entfliehen. Es wird in den Tiefen seiner Seele weiterwirken und sein Schicksal bestimmen. Die geprägte Form, die keine Zeit und Macht zerstückelt, ist sein innerstes Wesen, das sich bis in die leibliche Form offenbart und sich lebend entwickelt. Wie die Pflanze ihr Wesen im Zeitenlauf in wechselnden physischen Gestalten entfaltet, so bringt der Mensch sich selbst hervor gemäß dieses selbst auferlegten Gesetztes. Eine seiner Seele innewohnende Geistigkeit, sein Ich, präpariert sein Wesen so, dass es seinen irdischen Aufgaben gerecht werden kann. Äußere Mächte können ihn zwar von diesen Aufgaben ablenken und ihn in die Irre führen, ihn peinigen, ihn mit dem Tod bedrohen, doch „ein guter Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Weges wohl bewusst“.² In den Worten, die der „Herr“ zu Mephistopheles in Goethes Faust spricht, kommt zum Ausdruck, dass der gute Mensch seinen Weg durch Bewusstheit findet. Aus der Erkenntnis seiner selbst und seines Weltzusammenhanges, kann er an seinem eigenen Wesen bauen und über sich selbst hinauswachsen.
Goethe gestaltet seinen Faust als Repräsentant der Menschheit. Was er leidet, ihn erfreut, er sich an sittlichen Pflichten auferlegt, wie er mit bösen Mächten ringt, ist beispielhaft für die gesamte Menschheit. In der Faust-Gestalt skizziert er ein Menschheitsideal, das sich durch das selbst auferlegte Schicksal verwirklicht.
Der Teufel, in der Gestalt des Mephistopheles, kann ihn zum Bösen reizen und sein Wesen auf schiefe Bahnen führen. Fausts Erkenntnisfähigkeiten sind jedoch auch in der Lage die Finten des Bösen zu durchschauen. Der Herr traut dem Menschen zu, fähig zu sein, aus einem klaren, einfühlenden Denken zu urteilen und danach zu handeln. Er gibt Mephisto zu verstehen: „Wenn er mir jetzt auch nur verworren dient, so werd‘ ich ihn bald in die Klarheit führen …“² Was nach Unfreiheit klingt meint jedoch, dass Faust ihm nicht willenlos folgen soll. Er will ihn mit Neigungen begaben, durch die er Herr seiner selbst werden kann. Das bedeutet: Der Dämon, die oben genannte göttliche Kraft, kann in ihm wirksam werden.
Dieser Weg in die Selbstermächtigung ist mit schmerzvollen Erlebnissen verbunden. Die kindlich vertrauende Weltverbundenheit geht verloren. Immer mehr fühlt sich Faust einer fremden Welt gegenüberstehend. Die Fragen nach Sinn und Bedeutung des Lebens und die Frage, was er selbst in der Welt ist, bleiben unbeantwortet. Teuflische Verführungen bringen ihn ins Wanken. Kein Bücherwissen, sondern nur erlebtes Wissen kann ihm aus diesem Dilemma heraushelfen. Die Neigungen, welche Höherentwicklung verheißen, werden ihm zur Qual. Er fühlt sich ohnmächtig und unfähig die Rätsel der Welt zu lösen und aus dem Meer des Irrtums aufzutauchen.
Doch in hellen Momenten merkt Faust, dass sich in ihm die Sehnsucht nach einem verborgenen Glück regt. Dann „fordert er vom Himmel die schönsten Sterne und von der Erde jede höchste Lust“. Von beiden Welten fühlt er sich angezogen. Auf keine der beiden Welten möchte er verzichten. Doch beide fordern ihre Rechte und lassen ihn dumpf erleben, dass er nur dann wirklich Mensch sein kann, wenn er in beiden Welten zu leben im Stande ist. Schmerz und Lust, Glück und Unglück werden davon abhängen, ob er beide Welten im Gleichgewicht halten kann oder ob er in einer dieser Welten versinkt.
Der Blick in die Tiefen seiner Seele lässt ihn ahnen, dass dort Himmel und Erde, Geistiges und Sinnliches aufeinandertreffen. Die Gegensätzlichkeiten dieser Welten fordern eine Instanz, die einen geordneten Übergang von einer zur anderen ermöglicht und ein Einleben in die Gesetze der gegensätzlichen Welten ermöglicht.
Obwohl Faust von Gefühlsregungen, heißem Wünschen, wildem Wollen hin und her geworfen wird, merkt er, dass es diese Instanz, in seinem Inneren gibt. Sie vermag seinen Seelenstürmen gegenüberzutreten und sie in Schranken zu weisen. Der Blick in seine Seele macht deutlich, dass sein innerstes Wesen ein Denken hervorbringen kann, das in der Lage ist, die genannten Stürme zu befrieden. Er erlangt ein natürliches Vertrauen zum Denken und merkt, wie es ihn über sich selbst hinaushebt und ihn mit der Welt verbindet. Das einem klaren Denken und einer in die Welt hineinhörenden Auffassung entsprungene Wissen bereichert sein Seelenleben. Er kann empfinden, dass ihm sein Schicksal schwere Prüfungen auferlegt hat, damit er gegen alle Widerstände in der Lage ist, sich selbst zu führen und seine Bestimmung im Leben zu finden. Heinrich Faust hat in sich ein Reich geschaffen, das ihm ermöglicht, in sich selbst zu leben. Er verliert die Sucht nach unfruchtbaren sinnlichen Eindrücken. Ein gefestigtes Innenleben ermöglicht ihm, sein Fühlen in ein Mitfühlen mit anderen Wesen zu wandeln und seinen Willen zu befeuern. Die liebende Hinwendung zur Mitwelt öffnet seine Seele, die damit zum Empfindungsorgan, auch für das verborgene Geistige in der Welt wird. Damit erwirbt er das moralische Recht, vom Himmel die schönsten Sterne und von der Erde jede höchste Lust zu fordern. Er wird das Geforderte nicht allein für sich nutzen, sondern danach streben, durch den damit errungenen inneren Reichtum, dem Entwicklungsfortschritt der Mitwelt zu dienen.
¹ „Der Mensch kann in sich ein Göttliches finden, weil sein ureigenstes Wesen dem Göttlichen entnommen ist.“
Rudolf Steiner, Die Geheimwissenschaft im Umriss, GA 13
² Johann Wolfgang von Goethe, Faust Teil 1 (Prolog im Himmel)