Auf dem Weg über sich hinaus

Text und Bild: Norbert Liszt, Bildidee: Ilse Liszt.

Das Warum können wir nur verstehen, wenn wir etwas vom Woher wissen und vorempfinden können, wohin es gehen soll.

Entwicklung bewusst zu vollziehen, ist eine Aufgabe, die die Gegenwart der Menschheit stellt. Nicht dunkle Triebe sollen uns leiten, sondern Willensimpulse, die einem hellen, wachen Bewusstsein entspringen. Es soll uns ermöglichen Vergangenes und Zukünftiges sinnvoll zu verbinden. Die Zustände der Gegenwart werden wir nur richtig verstehen, wenn wir etwas vom Woher und Wohin wissen.

Das Wort Entwicklung deutet darauf hin, dass es einen Kern gibt, der freigelegt, ent-wickelt, werden will. Bezüglich der menschlichen Entwicklung kann das bedeuten: Es gibt in uns ein Ideal als Kern unseres Menschseins. Dieses Ideal ist der Mensch im Grunde seines Wesens. Er muss es aber selbst in sich verwirklichen. Das bedeutet, er kann niemals bleiben, wie er ist. Ständig ist er aufgefordert über sich selbst hinauszuwachsen. Das ist der Freiheitsweg des Menschen, der Weg vom Geschöpf- zum Schöpfer-Sein, der Weg der selbstgewählten Rück- bzw. Neuverbindung mit der Sphäre seines Ursprungs.

IMG_6206

Durch objektive Geschichtsbetrachtung können wir die Erkenntnis gewinnen, wie das menschliche Wesen auf die Fährte der Freiheit geleitet wurde. Der Mensch soll sich von einem Naturwesen zu einem Vernunftwesen emporentwickeln. Aus der Erkenntnis seiner selbst und seiner Verbundenheit mit der Welt, kann er selbst- und damit auch weltschöpferisch tätig werden. Er wäre sonst nur von Naturgesetzlichkeiten bestimmt. Im Erkenntnisprozess findet die ganze Welt in unserer Seele eine Heimat. In diesem Sinne ist Selbsterkenntnis gleich Welterkenntnis und Selbstgestaltung gleich Weltgestaltung. Das Entwicklungsideal ist der sich selbst vervollkommnende Mensch, der sich selbst die Regeln gibt. Manche werden meinen, das verleite zu egoistischem Handeln. Diese Gefahr besteht. Es wäre töricht, das zu leugnen. Wir dürfen allerdings annehmen, dass uns der Trieb innewohnt, das Schicksal der Welt mit unserem eigenen Wesen zu verbinden.

Mag dieser Trieb auch verschüttet sein, wenn er sich durch alle möglichen Widerstände hindurchringt, ist er eine Kraft, die den egoistischen Verführungen die Stirn bietet.

Bewusstseinsentwicklung

Könnten wir verstehen, wie sich unser Bewusstsein im Durchgang durch die verschiedenen Kulturepochen verändert hat, könnte uns dieses Verständnis die Brücke in die Zukunft schlagen. Mit dieser Bewusstseinsentwicklung muss unser ganzes Wesen mitgehen, ja, sogar die uns umgebende Welt. Aus Wesen, die nur etwas sind durch andere Wesen, sollen Wesen werden, die sich selbst gestalten und sich selber Regeln geben.

Der Mensch am Beginn seiner Entwicklung ist ein Produkt anderer Wesenheiten. Der Weltengrund oder was die christliche Religion das Vatergöttliche nennt, gibt uns seine Substanz. Er bildet uns, lebt in uns, fühlt in uns; denkt und handelt in und durch uns. Der Blick auf die großen Werke der ägyptischen und griechischen Kultur, kann uns ahnen lassen, wie noch in diesen Zeiten der Mensch das Instrument war, durch das höhere geistige Wesenheiten gewirkt haben.

Die Gottheit will uns Menschen aber nicht so belassen, sondern prägt uns einen eigenen Willen ein, der gepaart mit der Fähigkeit zu denken und zu fühlen unsere Seele von innen her formen soll. Diese Einprägung braucht Zeit, um sich zu entfalten. In langen Zeiträumen und stufenweiser Entwicklung, sollen wir Menschen eigenständige Wesen werden, in dem Sinne, wie das kleine Kind allmählich erwachsen und selbständig wird. Das naturgegebene Bewusstsein in uns verdämmert. Wir empfinden uns nicht mehr verbunden mit unserer Mitwelt, sondern fühlen uns ihr gegenüberstehend. Ich und Welt fallen auseinander. Das scheint ein Abstieg unserer Entwicklung zu sein. Was uns aber bleibt ist diese Einprägung göttlicher-geistiger Substanz. Von diesem individualisierten Göttlich-Geistigen erhalten wir die Kraft, selbsttätig zu wirken. Diese Geistigkeit müssen wir uns ganz zu Eigen machen. Sie soll die Sonne unserer Seele sein, die von der Seele aus die ganze Welt beleuchtet und befruchtet, wie es die äußere Sonne in der Natur tut. Sie trennt uns von der Welt und führt uns auf eine besondere Weise wieder mit ihr zusammen. Durch sie können wir sagen: „Ich bin!“ Dieses Geistige in uns ist heute noch kindlich klein und schwach. Es ist allerdings von ganz besonderer Art. Dieses „reine, in sich selbst bestehende Geistige“¹ ist eine Erneuerungskraft, die fähig ist, „das Geistige im Menschen zum Geistigen des Weltalls zu führen“². In dieser heute noch kleinen Geistigkeit liegt das Größte verborgen, das unsere Welt hervorzubringen vermag.

Der reine Tor in der Parzivalsage ist eine sehr gelungene Darstellung des neuen Menschseins. Der nichts wissende Parzival wird zum Erlöser des leidenden Menschen, nicht der alles wissende Gurnemanz. Der Weltengrund macht seine Seele zu einem unbefleckten, reinen Ort und schafft sich ein Bewusstsein, in dem der Weltinhalt erscheinen kann. Dieser fließt aber nicht einfach in die Seele hinein, sondern will aus Liebe zur Wahrheit, mit freien Willenskräften errungen werden. Der junge Parzival repräsentiert den nach Entwicklung verlangenden Menschen. Er weiß nichts von der Welt und das ermöglicht ihm, dem Weltgeschehen   voraussetzungslos gegenüberzutreten. Staunend und mit liebendem Interesse blickt er auf seine Umwelt und das entzündet in ihm den Willen, urteilsfähig zu werden. Nach und nach tauchen in ihm die Fragen zur Lösung der Menschen- und Weltenrätsel auf. Indem er die richtigen Fragen findet, kommt er zum Verständnis für die Antworten, die das Leben gibt.

Von Selbstsein wachgeküsst

Damit wird der Mensch mit dem Kern des Weltenseins verknüpft. In seinem Denken kann das Weltgeschehen sich selbst anschauen. Aus dem Dämmerschlaf des alten Bewusstseins, deren Inhalt uns geschenkt wurde, erwacht ein neues, erneuerndes Bewusstsein, das nur erscheint, wenn wir etwas dazu tun. Der 100-jährige Schlaf im Märchen „Dornröschen“ weist auf das Verdämmern des alten Bewusstseins hin. Der Königssohn, der die Prinzessin wachküsst, ist der Erwecker dieses neuen Bewusstseins. Eines Bewusstseins, das man als Sohnschaft des Weltengrundes bezeichnen kann. Dieser Sohn des Weltengrundes ist die Kraft, aus der unser Selbstsein entspringt. Er verbindet sich mit uns und schaut in uns und mit uns auf die Welt des Ursprungs, die Vaterwelt. Er hat den Willen im Erwachen dieses neuen Bewusstseins aus dem unbefangenen, objektiven Erkennen des Vaters und seiner Welt, die Weltentwicklung weiterzuführen. ³

Doch dieses Sohnes-Göttlich-Menschliche, die Individualität, muss anders sein, als das Vater-Göttliche. Der Sohn wäre sonst nur das Werkzeug des Vaters und würde mit seinen Augen auf die Welt blicken. Aber der Vater erwartet vom Sohn ein objektives, unbeeinflusstes Urteil über seine Welt. Deshalb muss der Sohn alle Höhen und Tiefen des Weltgeschehens durchleben, um urteilsfähig zu werden. Er muss die Möglichkeit haben sich vom Vaterwillen unabhängig zu machen, um selbständig urteilen zu können (siehe „Gleichnis vom verlorenen Sohn“, Lukas 15, 11-32). Soll es ein unvoreingenommenes, freies Urteil sein, muss der Sohn das Vaterbewusstsein zurückweisen und in sich ein neues begründen. Mit den Erfahrungen, die er dabei macht, kann die Welt des Ursprungs erneuert und weiterentwickelt werden. Der Sohn kehrt bereichert zum Vater zurück. Der erkennt seine Erneuerungsmacht und bereitet ihm einen festlichen Empfang.

„Der Vater erkennt sich selbst im Sohn, aber der Erkannte und der Erkennende sind eins“ (Meister Eckart). Der Vater stellt sich also durch die Sohnwerdung sein eigenes Wesen gegenüber.³ Darin offenbart sich das individuelle Menschsein (Individuum = Unteilbares). Der objektive, unteilbare Weltinhalt erscheint im Subjekt.

Wenn in religiösen und mythologischen Geschichten von Söhnen erzählt wird, die den Vater verlassen, kann damit ausgedrückt werden, dass Entwicklungsschritte ein Stirb und Werde mit sich bringen. Altes muss zu einem Ende kommen, damit sich Neues bilden kann. Geschichtliche Abläufe tragen diese Signatur in sich. Alle Kulturepochen zeigen ein Aufblühen, eine Hochblüte und ein Verblühen. Bekanntlich folgt dem Verblühen die Fruchtbildung mit den Keimen, aus deren Inneren neues Leben entspringt. Die Würde des Menschen ist verbunden mit diesen Abläufen; unaufhörlich Keime bildend, die aus ihrem Inneren neues Leben hervorbringen; ein ewig bestehendes, einheitliches Prinzip in sich tragend, das sich werdend verwirklicht.

¹  und ² Rudolf Steiner, Anthroposophische Leitsätze, GA 26

³ „Das Geistige kann sich selbst anschauen in seinen Wirkungen. Im Erkennen vollzieht sich, was sich in der Außenwelt nirgends vollzieht: Das Weltgeschehen stellt sich selbst sein geistiges Wesen, gegenüber. Ewig wäre dieses Weltgeschehen nur eine Halbheit, wenn es zu dieser Gegenüberstellung nicht käme.“

Rudolf Steiner, Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung, GA 7

 

 

Permalink