Atem

Text: Norbert Liszt

Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:
Die Luft einziehen, sich ihrer entladen;
Jenes bedrängt, dieses erfrischt;
So wunderbar ist das Leben gemischt.
Du danke Gott, wenn er dich presst,
Und dank ihm, wenn er dich wieder entlässt.

Johann Wolfgang Goethe

Die Welt atmet schwer unter der Belastung der Coronakrise. Unsere Atmung lebt vom Rhythmus. Die Krise hat die Welt aus dem Rhythmus gebracht. Vielleicht ist das ein Symptom dafür, dass sie einen anderen Rhythmus nötig hat. Covid-19 ist eine Erkrankung, die besonders unser Atemsystem angreift. Wie bei der saisonalen Grippe, steigt auch bei der besagten Erkrankung die Zahl der Menschen, die an Atemwegsbeschwerden leiden, was bei manchen sogar lebendbedrohend ist. Womit haben wir es zu tun, wenn wir von Atmung sprechen?

Lebensprozess Atmung und ihr Element, die Luft

In allem Lebendigen muss es eine Form der Atmung geben. Ob Pflanze, Tier oder Mensch, alles atmet auf seine besondere Art. Es ist das Verhältnis zur Außenwelt, das die Atmung vermittelt. Wir verbinden uns mit der Welt, indem wir einatmen und lösen uns von ihr durch die Ausatmung. In Goethes Worten kommt zum Ausdruck, dass mit der Einatmung etwas in uns hereinströmt, das uns innerlich drückt und unseren Brustkorb weitet. Diesem Druck will sich unser Körper aber nicht lange aussetzen und ganz von selbst strömt die Luft wieder hinaus. Das verdanken wir der Elastizität unserer Atemsystems.

Zwerchfell- und Rippenbewegung wirken so zusammen, dass sich das Lungenvolumen in wechselnder Folge vergrößern und verkleinern kann. Dabei spielen die beiden serösen Häute, die Pleurablätter – Rippen- und Lungenfell – und das Druckverhältnis zwischen diesen beiden eine große Rolle. Ein Unterdruck und die seröse Flüssigkeit zwischen den beiden Häuten ermöglichen ihre gleitende Verschieblichkeit und dass das Lungengewebe der Ausdehnung des Brustkorbs bei der Einatmung folgt. Gibt die Einatemmuskulatur nach, zieht sich das elastische Lungengewebe zusammen, nimmt Rippen und Zwerchfell mit und wir atmen aus. Doch von all dem merken wir im Normalfall nichts. Das Atmen bleibt unbewusst. Nur in Ausnahmefällen drängt es sich ins Bewusstsein: bei intensiver körperlicher Belastung und starken Gefühlsregungen. Der Atem ermöglicht unser Sprechen und Singen und drängt sich auch dabei nicht ins Bewusstsein, sondern stimmt sich mit deren Rhythmik zusammen.

Das Medium, in und mit dem unsere Atmung ihre Wirksamkeit entfaltet, ist die Luft, die gasförmige Hülle der Erde. Und die Luft hat immer auch Wärme und Wasser in sich. Erdbewegung im Verein mit Wärme- und Kälteverhältnissen bewirken unterschiedliche Druckbedingungen. Die Luftmassen geraten in strömende Bewegung, die in der Folge Hoch- und Tiefdruckräume schafft. Wolken, Gebilde aus einem Luft-, Wasser-, Wärme-, Staubgemenge unterschiedlicher Gestalt, entstehen.

Friedrich Gauermann, Heimeilendes Vieh in einem Gebirgsdorf bei Regen

Die Wettererscheinungen bringen segensreiche Effekte mit sich. Alle Naturreiche, Mineral-, Pflanzen-, Tier- und Menschenreich verdanken Vieles den wechselnden Wetterverhältnissen. Der Mensch nutzt sie für seine Zwecke in vielen Bereichen, sei es in der Technik, der Landwirtschaft, der Fortbewegung etc. Sie bringen aber auch Zerstörungsprozesse mit sich, durch Wetterkapriolen wie schwere Gewitter, Hagel, Stürme …

Diese Luftkörperveränderungen wirken auch auf unseren Organismus. Wetterfühlige Menschen spüren diese Veränderungen oft schon, bevor sie eintreten. Bei ungenügender Eigenständigkeit des uns innewohnenden Luftorganismus, schwingt dieser mit den ihm verwandten Wettererscheinungen zu stark mit. Das kann körperliche und seelische Verstimmtheiten zu Krankheiten steigern. Daran wird offenbar, wie sehr es darauf ankommt, ein richtiges Verhältnis zu dieser Sphäre der uns umgebenden Welt zu finden. Zwischen Innen- und Außenräumen schwingt die Luft hin und her und dieses Schwingen ist dann heilsam, wenn es in einem stimmigen Rhythmus verläuft. Ein gesunder Atemrhythmus kann sich an körperliche und seelische Anforderungen anpassen und nach starker Belastung bald wieder zum eutonen (normalen, ausgewogenen) Rhythmus zurückkehren. Alle heilenden Kräfte liegen ursprünglich im menschlichen Atmungssystem“. ¹

Beseeltes Atmen

Mit der Luft haben wir ein Element, das zu gleicher Zeit dem Inneren und der Außenwelt angehört. „Früher war die Luft beseelt. Der Mensch fühlte: Indem ich Atemwesen bin, bin ich zugleich ein Wesen der Natur draußen, zu gleicher Zeit ich selbst. Früher atmete der Mensch Seele, jetzt atmet er Luft. Die Luft ist jetzt nicht mehr beseelt“.²

Diese Worte Rudolf Steiners bringen zum Ausdruck, dass der Mensch in früheren Zeiten mit der Außenwelt über die Atmung in einem innigeren Verhältnis stand als heute.

Doch, nicht nur im Luftartigen gibt es dieses Wechselverhältnis von innen und außen. Auch in anderen Sphären kennen wir ein Atemgeschehen. Sinneseindrücke strömen ein. Das lässt sich vergleichen mit dem Einatmen. Sie werden im Inneren bewegt und seelisch verdaut. Es entsteht ein Nachbild, welches allmählich abklingt. Das Nachwirken und Verklingen geschieht mit allen unseren Sinneseindrücken, auch wenn wir es nicht bemerken. Beim Sehen ist das am deutlichsten. Man schaut auf etwas Helles, macht die Augen zu und sieht ein Nachbild. In der Folge verändert es sich in Farbe und Form und klingt ab. Der Sinnesprozess erfährt eine Durchseelung, wenn wir in ihm nicht nur sinnliche Wahrnehmungen haben, sondern auch deren geistigen Gehalt erfassen können. Wir treten also jetzt auf diese Weise mit der Welt in einen seelischen Wechselverkehr.

Die Sinneseindrücke werden in der Folge mit unserer inneren Biografie abgestimmt. Wenn sie dann genügend Antrieb bieten, fließen sie aus in unsere Handlungen. In diesem Fall tritt Physisches und Geistiges durch seelische Vermittlung in Beziehung. Denn zwischen die körperlichen Prozesse Sinneseindruck und Handlung stellt sich ein übersinnliches Geschehen. Die im Körper ablaufenden physiologischen Vorgänge machen eine Metamorphose durch. Wie in der Puppe die Raupe verschwindet, sich auflöst, so lösen sich die körperlichen Vorgänge in Seelisch-Geistiges auf. Sie nehmen eine geistige Gestalt an. Diese kann zu einem gedanklichen Beweggrund werden, um dann wieder in den Körperbewegungen in Erscheinung zu treten, wenn wir eine Handlung ausführen. Es ist eine Form des Atmens, welches unser Verhältnis von physischem und geistigem Sein bestimmt. Menschsein bedeutet ja unter anderem, dass Körperliches und Geistiges in Beziehung treten wollen. Das erfordert ein funktionierendes Abstimmen beider Bereiche. Unsere Seele würde ich als den Ort bezeichnen, in dem dieses Wechselverhältnis geregelt wird. Ihre Werkzeuge sind Denken, Fühlen und Wollen. Das Denken benötigt den impulsierenden Willen und die Klarheit des Denkens ist Voraussetzung für zielorientiertes Handeln. In unseren Gefühlen äußert sich dieses seelische Atmungsgeschehen, denn in den Gefühlen lebt ein Wechselspiel zwischen Gedanklichem und Willenshaftem. Geheimnisvoll sind ihre Äußerungen. Sie können uns verderben, uns in tiefste Abgründe stürzen und bilden andererseits den Boden für die edelsten Taten. Unser Verstehen reicht nicht heran an die Weisheit ihrer Botschaften und wir ahnen, dass das Verstehen keinen Wert hat ohne sie. Sie sind Grundlage unseres Denkens und Wollens. Da sie uns nur halbbewusst werden, spielen sie uns viele Streiche und sind doch wie Sterne, die unseren Lebenswegen leuchten und Orientierung geben. Auf geheimnisvolle Weise teilen sie uns mit, was Sinnen- und Gedankenwelt von uns fordern. Wir fühlen, ob etwas falsch oder richtig, gesund oder krank ist, noch bevor unser Verstand es fassen kann. Fühlen ist das Atmen der Seele und wir können empfinden, wie auch unser körperliches Atmen den seelischen Regungen folgt. Es macht uns krank, wenn sein Rhythmus hinkt und heilt uns, wenn es maßvoll schwingt.

¹ Rudolf Steiner, GA 229, Das Miterleben des Jahreslaufes in vier kosmischen Imaginationen, fünfter Vortrag

² Rudolf Steiner, GA 194, Die Sendung Michaels, sechster Vortrag

Bild: aus dem Buch „Funktionelle Anatomie des Menschen“ von J.W. Rohen und E. Lütjen-Drecoll

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