Text: Thomas Backmeister, Wien, Foto: Sebastian Baryli
In Anbetracht all der schrecklichen gegenwärtigen Ereignisse, vor allem der Kriege in der Ukraine und in Israel, aber natürlich auch all der anderen Kriege weltweit, stellt sich uns die Frage: Wo liegen die tieferen Gründe dafür? Man kann natürlich an vielen Ecken und Enden danach suchen. Hier soll nur versucht werden, diesbezüglich ein Licht auf unsere sogenannte „Demokratie“ zu werfen. Denn ich hoffe doch, dass die meisten Menschen in unseren Landen jeden Krieg verabscheuen. Also warum entstehen Kriege dann trotzdem immer wieder? Warum entstehen andere Krisen, wo viele das Gefühl haben, dass über ihre Köpfe hinweg Entscheidungen getroffen werden, die sie eigentlich gar nicht wollen? Das hat doch mit wahrer Demokratie wenig zu tun. So kann man also sehr berechtigt vermuten, dass der Wille des Volkes gar nicht wirklich zum Tragen kommt. Nicht nur in den Diktaturen ist dies der Fall, sondern auch immer mehr bei uns in Europa und in der westlichen Hemisphäre.
In der westlichen Welt findet alle vier oder fünf Jahre ein großes Wahlspektakel statt, wo die verschiedenen Parteien versuchen, ihre Vertreter ins Parlament und in die Regierung zu bringen. Dann ist alles vorbei und die Bürger dürfen einige Jahre den Mund halten, d.h. die Gewählten verrichten für sie „ihre Arbeit“. Der Einwand ist lächerlich, dass die Menschen doch die Möglichkeit hätten, sich etwa mittels Volksbefragungen und Petitionen einzubringen. Dies ist Augenauswischerei, denn im Grunde ändert sich dadurch so gut wie nichts. Eine echte Mitsprache der Bevölkerung in politischen Angelegenheiten müsste ständig stattfinden. Es müsste ständig der Volkswille wirken und die Volksvertreter müssten danach handeln und das Land rechtlich verwalten. Das wäre echte Demokratie, also Herrschaft des Volkes. Wenn wir zurückschauen nach Griechenland, dann sieht man, dass die Griechen damals viel näher diesem Ideal waren als wir heute. Natürlich durfte ein Großteil der Menschen nicht wählen, aber innerhalb der Bürgerschaft war es so. Dazu später noch etwas genauer.
Ein zweiter Kritikpunkt neben dem der sporadischen Wahl von Repräsentanten ist das Vorhandensein der Parteien. Man frage sich: Was hat eine Partei eigentlich mit echter Repräsentation des Volkes zu tun? Was heißt eigentlich „Partei“? Eine Partei ist die Organisation eines Gruppeninteresses oder Teilinteresses, hat also prinzipiell nicht das Ganze im Auge, sondern Einseitigkeit und Egoismus eines Teiles (pars = Teil). Das bedeutet, dass eine Partei, die durch Wahl die Mehrheit der Stimmen im Parlament erhalten hat, dem Ganzen des Volkes Gesetze aufzwingen kann, die ihrem eigenen Interesse dienlich sind. Dadurch werden die Interessen der anderen vernachlässigt und unterdrückt. Aber die Aufgabe des Staates als die rechtliche Verfasstheit aller ist es, für die Berücksichtigung der Interessen aller zu sorgen. Diese Aufgabe wird in einem Parteiensystem also gerade verhindert.
Zu den Parteien kommen dazu die Lobbyisten-Gruppen. Sie wollen ebenso, dass ihre Interessen möglichst bestimmend in die Gesetze eingehen und sie prägen. Der Unterschied ist nur, dass die ersteren die Gesetzgebungs- und Regierungsapparate besetzt halten und die letzteren bei ihnen um Einfluss buhlen müssen. Die von den Parteien gestellten Abgeordneten sind also keine Volks-, sondern Parteivertreter. Sie nehmen nur die partikularen Interessen ihrer Partei im Parlament wahr. In einer Partei unterliegt der Einzelne dem Gruppenzwang. Er wird zum „Parteisoldaten“ degradiert. Weicht ein Abgeordneter grundgesetzkonform von der ausgegebenen Linie seiner Partei ab, so verschlechtert sich das persönliche Klima zu ihm. Er wird gemieden, verliert bei nächster Gelegenheit seinen Sitz in einem Ausschuss und wird bei der nächsten Wahl von der Partei nicht mehr aufgestellt. Solche Parteisoldaten sind also niemals Vertreter des ganzen Volkes. Von einer „Ungebundenheit an Aufträge und Weisungen“ und von einer „Unterworfenheit nur dem eigenen Gewissen“ kann nicht die Rede sein (siehe z.B. Art. 38 des deutschen Grundgesetzes). Das sind hohle Phrasen zur Beruhigung des Volkes. In einer wirklichen Demokratie müssten die Volksvertreter freie Individualitäten sein, die nach ihren eigenen Einsichten, Erkenntnissen und Motiven handeln.
Ein dritter Kritikpunkt an unserer heutigen „Demokratie“ ist die Omnipotenz des Parlamentes, d.h. die Anmaßung, dass über das Parlament alle Lebensbereiche der Menschen geregelt werden sollen. Richtig wäre aber, nur die rechtlichen Belange zu regeln. Die wirtschaftlichen Belange und die des Geisteslebens müssten sich jeweils eigenständig verwalten und organisieren dürfen. Durch diese Omnipotenz wird das Parlament zum attraktiven Flaschenhals für Interessengruppen, um möglichst viel Macht über die Menschen und ihre Angelegenheiten zu erhalten. Durch die inhaltliche Vorgabe und Reglementierung des Handelns in Wirtschaft und Kultur wird die freie Selbstbestimmung der Menschen in diesen Bereichen beschnitten. Dadurch wird ein Untertanenverhältnis geschaffen. Nur ein Beispiel: Die Lehrpläne des Bildungsministeriums verhindern die freie Gestaltung des Unterrichts durch die Pädagogen.
Nach dieser groben Analyse lässt sich also konstatieren: Wir leben in einer scheindemokratischen Parteien-Oligarchie. Es erhebt sich die Frage, wie nun eine echte Demokratie, also eine Herrschaft des Volkes in allen rechtlichen Belangen verwirklicht werden könnte?
Rudolf Steiner sagte einmal (Mai 1919, siehe GA331, S.36): „Denn herrschen muss in der Zukunft nicht eine Regierung, sondern die ganze breite Masse des Volkes. Die Regierung muss regieren und lernen, wie man regiert, wenn tatsächlich die ganze breite Masse des Volkes herrscht.“
Besinnt man sich auf die Wiege der Demokratie in Griechenland, so sieht man – vielleicht erstaunt – dass damals nicht Wahlen das Vorherrschende waren, sondern die Auslosung.
In einer echten Demokratie, in der die Gesetzgebung für öffentliche Belange tatsächlich „vom Volk ausgeht“, geht es nicht darum, irgendwelche „Besten“ als dessen Vertreter in einem Parlament zu versammeln, sondern darum, dass ein repräsentativer Querschnitt aus dem Volk gebildet wird. Die Bestimmung der „Besten“ ist das Prinzip der Aristokratie. Dabei spielt es keine Rolle, ob Aristokraten durch Vererbung die Macht erlangen (wie früher) oder in unserem heutigen Parteiensystem durch Wahl. Die „Besten“ sind dann diejenigen, die am besten nach oben gepuscht wurden, durch die Macht des Geldes, der Werbung, der Medien, alles basierend auf egoistischen Teilinteressen der Parteien.
Wie erhält man aber einen repräsentativen Querschnitt des Volkes? Indem aus der Bürgerschaft Vertreter für ein Parlament oder für einen Konvent zu einer bestimmten Angelegenheit ausgelost werden.
So gab es in der Athener Demokratie im 5. und 4. Jahrhundert vor Christus einen „Rat“, der durch Auslosung von 500 Bürgern zustande kam. Er entwarf die Gesetze, die in der Volksversammlung beschlossen wurden. Auch das Volksgericht bestand aus ausgelosten Bürgern (ca. 6000). Diese wurden sogar täglich partiell für aktuelle Rechtsfälle ausgelost. Die Exekutive bestand aus 600 Beamten, die durch das Los bestimmt wurden und 100 Spitzenbeamten, die von der Volksversammlung gewählt wurden. Letztere bestand aus ca. 6000 durch Selbstanmeldung bestimmten Bürgern.
In der Renaissance wurden ähnliche Verfahren wiederum aufgegriffen, z.B. in Venedig und Florenz.
Was wurde dadurch erreicht? Eine gute Repräsentation der Bürgerschaft, eine optimale Resistenz gegen Korruption und politische Machtkonzentration und eine hohe Bereitschaft in der Bevölkerung, mitzumachen und mitzuentscheiden. Diese Ziele werden von gewählten Legislativen kaum erfüllt.
Es gibt nun viele Möglichkeiten, wie und in welchem Umfang in der heutigen Zeit Losmethoden angewendet werden könnten. Man kann nicht erwarten, dass von heute auf morgen mit einem Schlag das Wahlsystem abgeschafft wird. Aber man könnte damit beginnen, für einzelne politische Fragen zufallsgenerierte Konvente arbeiten zu lassen oder neben einem gewählten Parlament eine zweite Kammer zu bilden, die aus ausgelosten Bürgern besteht. Im letzten Fall muss entschieden werden, wie dann die Befugnisse auf die beiden Kammern verteilt werden, d.h. wie der Weg vom Gesetzesvorschlag bis zu dessen Rechtswirksamkeit verläuft.
Es soll nun in Kürze auf die Funktionsweise eines solchen obigen Konventes hingedeutet werden: Die ausgelosten Menschen beraten über eine zu entscheidende Frage. Sie erhalten alle Mittel, um an die dazu benötigten Informationen heranzukommen. Sie laden sich Spezialisten, Fachleute und Interessenvertreter zum Thema ein. Wohlgemerkt: Nur Einladungen sind erlaubt! Strafbar ist, wenn Lobbyisten von sich aus an Konventmitglieder herantreten. Dadurch wird jede intransparente Form von Beeinflussung und Manipulation minimiert und keine langjährigen Beziehungen zwischen Lobbyisten und Abgeordneten können wachsen.
Nachdem ein solcher Konvent ausreichend lange beraten und sich informiert hat, stellt er ein Papier zusammen, auf dem alle Pros und Contras verschiedener Möglichkeiten zur Lösung der Frage aufgelistet sind. Dieses Papier bekommt die Bevölkerung zur Information vorgelegt. Nach einer bestimmten Zeit stimmt sie darüber ab.
Während des gesamten Prozesses ist keinerlei Werbung, keinerlei Kampagne, keinerlei Lobbyismus erlaubt. Nur rein sachliche Arbeit am Thema und den verschiedenen Optionen.
Wie käme in einer solchen aleatorischen Demokratie die Exekutive zustande (alea = Würfel)? Dazu folgendes Beispiel: Zur Bestimmung eines Justizministers würde aus der Gesamtheit aller, die im Bereich des Rechtes arbeiten (Anwälte, Richter usw.) per Losverfahren ein fachkompetentes Wahlgremium gebildet. Niemand wüsste vorher, wer in diesem Gremium sitzt. Dann würden von den ausgelosten Fachleuten die verschiedenen Kandidaten für den Ministerposten gesichtet und anschließend in geheimer Wahl gewählt. So könnte vermieden werden, dass jemand Justizminister wird, der keine Expertise auf dem Gebiet des Rechtes hat, aber dafür umso bessere Vernetzungen in seiner Partei, sodass ihm der Posten zugeschoben wird.
Auf dieselbe aleatorische Weise könnten auch die obersten Richter bestimmt werden. Etwaige Parteilichkeit von Verfassungsrichtern wäre dadurch minimiert und somit höchstmögliche Objektivität der Urteile gegeben.
Welche Wirkungen hätte eine Anwendung der aleatorischen Demokratie bei allen rechtlichen, die Gesamtgesellschaft betreffenden Fragen? Entscheidungen würden direkt vom Volk auf Grund höchstmöglicher Informationsbreite, Transparenz und persönlicher Beteiligung getroffen werden. Nicht nur einige wenige undurchsichtig ausgewählte Wissenschaftler und Berater würden angehört, wie das heute geschieht, sondern alle. Die wichtigste Folge wäre, dass jeder Mensch im Laufe der Zeit mit großer Regelmäßigkeit an politischen Entscheidungen und Debatten direkt beteiligt wäre. Auf lokaler Ebene, auf Landesebene, auf Bundesebene. Jeder könnte ein oder zwei Mal im Jahr für ein bestimmtes Thema in einen Konvent ausgelost werden und müsste sich mit der dort zu entscheidenden Frage befassen. Mit entsprechend hoher Vergütung, die ihm die Abwesenheit von seiner Berufsarbeit ermöglicht.
Man überließe also die wichtigen Fragen nicht den Spezialisten, sondern man traute den Laien zu, dass sie sich schlau machen können. Die Spezialisten, die Interessenvertreter und die gegensätzlichsten Gesichtspunkte kämen nach wie vor zu Wort, aber nur in der Weise, dass sie vor den ausgelosten Laien ihre Ansichten erklären können. Im Lauf der Jahre entstünde in der Gesellschaft ein hoher Zuwachs an politischer Kompetenz und an Sinn für das Gemeinwohl.
Die latente Vernünftigkeit der Menschen ist viel größer als man ahnt. Sie entfaltet sich aber nur, wenn sie adressiert, gefordert und gefördert wird. Dies ist geradezu eine moralische Verpflichtung. Nichts dafür zu tun, dass Menschen fähig werden, politisch vernünftig „gehen zu lernen“, ist eine Unterlassungssünde, so wie es ein Verbrechen ist, ein Kind daran zu hindern, gehen zu lernen.
Grundlegend ist ein der jetzigen Zeitepoche entsprechendes Vertrauen in den Menschen. Wir alle sind individuell und selbstbestimmt genug, also reif dafür, unsere politischen Entscheidungen in die eigenen Hände zu nehmen. In der aleatorischen Demokratie wird de facto jeder ernst genommen. Die Menschen sollen tatsächlich herrschen, wie es Rudolf Steiner formulierte. Geschieht dies nicht, so landet man mit der Zeit in irgendeiner Form von Manipulation und Entmündigung und schließlich in irgendeiner autoritären Regierungsform, die sogar über die Köpfe der Bevölkerung hinweg Krieg herbeiführt. Denn eine bloß durch Parteien und Wahlen zustande kommende „repräsentative Demokratie“ wird in aller Regel gekapert von Interessen, die skrupellos genug sind, um über Zigtausende von Toten hinweg zu gehen. Man stelle sich zum Beispiel vor, dass über die Frage der Ukraine ein ausgeloster russisch-ukrainischer Konvent befunden hätte – ohne irgendeine andere Beteiligung. Ein solcher wäre wohl zu anderen Ergebnissen gekommen als zu denjenigen, die Geschichte geworden sind. Dasselbe würde gelten, hätte ein Konvent ausgeloster Fachleute 1989 darüber zu befinden gehabt, wie man das Verhältnis von NATO und Russland in Zukunft gestalten sollte. Die bittere Wahrheit ist, dass die Kriege nicht aufhören, sondern zunehmen und verheerender werden, solange die Menschen nicht die Demokratie selbst in die Hand nehmen und sie denjenigen entreißen, die sie gekapert haben.
Literatur:
Herbert Ludwig: https://fassadenkratzer.wordpress.com/2015/11/18/das-verhaengnis-der-politischen-parteien
Valentin Wember: Dreigliederung; Stratosverlag 2023
David Van Reybrouck: Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht
demokratisch ist; Wallstein Verlag 2022