Leben in Mensch und Natur

Text: Norbert Liszt, Wien

Wenn man in sich selbst hineinspürt, kann man die Bewegung seiner Gedanken, Empfindungen, Gefühle und Willensimpulse wahrnehmen. Unsere Sinne vermitteln uns, dass auch die Außenwelt bewegt ist. Der Blick in die Natur sagt uns, dass es ein Wachsen und Vergehen gibt, und die Selbstbetrachtung führt zur Erkenntnis, dass wir das mit der Natur gemein haben. Das kann uns zu der Frage führen, was uns schließlich von den anderen Naturreichen unterscheidet, denn alle Daseinsformen der Natur lassen sich auch im Menschen finden. Aus den Stoffen der unbelebten Natur, dem Mineralreich, ist auch sein Leib aufgebaut, wie die Pflanzen wächst er und pflanzt sich fort, wie die Tiere bildet er ein Innenleben aus, indem er die Umgebung wahrnimmt und gemäß diesen Wahrnehmungen seelische Empfindung hat. Ist nun die menschliche Daseinsform ein eigenes Reich? Man kann jedenfalls sagen, dass der Leib des Menschen so gebildet ist, dass er nicht nur Wohnung einer Seele, sondern auch Wohnung des denkenden und sich selbst bestimmenden Geistes sein kann.

Pflanzenreich

Wenn wir das Wachsen von Pflanzen beobachten wollen, müssen wir Geduld haben. Sie entwickeln ihre Gestalt in mehr oder weniger langen Zeiträumen. Das Samenkorn birgt den noch gestaltlosen Stoff. Durch milde Feuchte geweckt, wird er von einer Kraft erfasst, die das Keimen der Pflanze erregt. Zuerst guckt ein kleiner noch sehr einfach geformter Sprössling aus der Erde, der nach oben strebt. Dieses Streben käme bald zum Stillstand, würde die Pflanze nicht auch in die Breite wachsen und in Form von Blättern das Sonnenlicht dazu einladen, ihr seine belebende Wirkung zukommen zu lassen. Mit seiner Hilfe kann sie ihr Wesen durch Formung und Umformung sichtbar machen. In der Blüte zeigt sie sich in ihrem schönsten Kleid. Durch sie wird die Pflanze fortpflanzungsfähig und in der Frucht und Samenbildung kommt ihr Wachstum zu einem Abschluss. Nach und nach hören die Lebenssäfte auf zu fließen und sie beginnt zu verwelken. Das bedeutet aber nur einen vorübergehenden Tod, denn im nächsten Frühling wiederholt sie ihren Entwicklungsgang.

Die Pflanze ist an ihren Standort gebunden, doch ihr Lebensraum ist schier unendlich weit. Ist sie auch von noch so kleiner Gestalt, es ist eine ganze Welt, der sie ihr Gedeihen anvertraut. Da ist der Boden mit seinen zahllosen Lebewesen, aus dem die Pflanze ihre sie nährenden Stoffe holt. Die Wesen des Bodens bereiten diesen so zu, dass er für die Pflanze genießbar wird. Die von der Sonne durchleuchtete und erwärmte Atmosphäre, mit den Luft- und Lichtwesenheiten – auch sie dienen ihrem Wachsen, Blühen und Fruchten. Selbst die Wesenheiten des Himmels – Sonne, Mond, Planeten und Sterne – sind mit ihrem Wesen verbunden.

Das Wachsen ist ein Zeitgeschehen. Der räumlichen Gestalt, mit der sie ihr Wesen offenbart, liegt ein sie belebendes, formendes Prinzip zugrunde, der Lebens- oder Ätherleib. Er ist ihr Bildner – daher auch Bildekräfteleib genannt. Leib muss man hier als spezifische Kräftewirkung verstehen, die geistiger Art, also mit physischen Sinnen nicht wahrnehmbar, ist. Alle Lebewesen haben einen ihrer Wesensart entsprechenden Ätherleib. Er ist der Architekt, der für rhythmisch verlaufende artgemäße Formbildung, Fortpflanzungsfähigkeit und Erhaltung des Lebens sorgt. Dabei ist die Pflanze abhängig von den Qualitäten der Jahreszeiten.

Die Pflanze will ihr Wesen im Jahresverlauf in physischer Gestalt zum Ausdruck bringen. Doch mit der Gestaltbildung ist ihr Wesen nicht endgültig erklärt. Wir wissen, dass jede Pflanze Wirkungen in sich trägt. Diese können lebensfördernd, aber auch tödlich u.v.a. sein. Die Medizin nutzt diese Wirkungen für Heilprozesse. Pflanzen sind Grundlage unserer Ernährung. Pflanzliche Speisen können bekömmlich und gesundend sein, sie können uns aber auch schaden und wir wissen, dass das eine Frage der Komposition und der Dosierung ist.

Tierreich

Wenn wir in die Tierwelt wechseln, dann erleben wir, wie bei der Pflanze einen Wachstums- und Fortpflanzungsprozess. Doch das Wachstum ist beim Tier unabhängiger von den Jahreszeiten. Mit der Geschlechtsreife und der Fortpflanzungsfähigkeit ist das Tier weitgehend ausgewachsen. Im Gegensatz zur Pflanze geht aber das Tierleben weiter. Die Allverbundenheit, die die Pflanze charakterisiert, nimmt ab. Das Tier bildet eine Innenwelt. Es entwickelt ein Empfindungsleben, das von den Sinnen genährt wird. Es ist mit Instinkten ausgestattet, mit denen es sich seiner Art entsprechend gegenüber der Außenwelt verhalten kann. Die Innenwelt muss sich gegenüber der Außenwelt behaupten. Das Tier muss sich Nahrung beschaffen und sich gegen Witterungseinflüsse und Feinde etc. zur Wehr setzen. Seine Instinkte und die Bewegungsfähigkeit erlaubt es ihm, seine Triebe, Instinkte, Gefühle u.a. so auszuleben, wie es seiner Art entspricht. Die Lebenskraft, die sich wie bei der Pflanze in Form eines Ätherleibes (siehe oben) äußert, dient beim Tier also nicht nur der Gestaltbildung. Sie übernimmt auch höhere Aufgaben und ordnet sich einem höheren Prinzip unter. Das ist das Gebiet des Seelischen. Der englische Begriff „animal“ bringt das deutlicher zum Ausdruck. Man kann es mit Seelenwesen übersetzen. Ein Seelenhaftes, der Astralleib, durchstrahlt Ätherleib und physischen Leib. Er führt einen Teil der Lebenskräfte in seinen Wirkungsbereich über. Das Wachsen wird zugunsten der Ausbildung und Differenzierung des Seelenlebens begrenzt. Das geht auch einher mit einer Differenzierung und Spezialisierung der Leiblichkeit. Der Körperbau der Tiere ist auf ihre besondere Seelenart und ihren Lebensraum zugeschnitten. Die Ausbildung eines artgemäßen Seelenlebens, bedeutet, dass dadurch das Tier einer Gemeinschaft angehört, deren Verhalten nicht vom einzelnen Tier bestimmt wird. Tiere sind keine abgeschlossen Wesen. Über den einzelnen Wesen schwebt eine Gruppenseele, die sie mit den anderen Tieren ihrer Art verbindet.

Man staunt über die Sicherheit, mit der sich so manches Tier in seinem Lebensraum bewegt. Das Eichhörnchen zum Beispiel hat eine Körperform die auf Leichtigkeit und schnelle Bewegung, sowohl in der Horizontalen als auch in der Vertikalen, gestimmt ist. Die Baumwelt ist sein Lebensraum. Kaum ein anderes Tier kann sich so flink und sicher in dieser Welt bewegen.

Der Mensch – ein höher entwickeltes Tier?

Ist der Mensch nur ein höher entwickeltes Tier? Wenn nicht, was ist der unverkennbare Unterschied?

Das Tier lebt gemäß den Bedingungen seiner Art. Jedes einzelne Tier wiederholt das artgemäße Verhalten. Das Eichhörnchen kann keinen anderen Lebensweg einschlagen als seine Vorfahren. Es kann nicht in die Lebensart eines Fuchses wechseln. Ein Seelisch-Geistiges lebt nicht im einzelnen Tier. Es lebt in einer übergeordneten Welt, als Gruppenseele, der alle Einzelwesen einer Spezies angehören. Sie regelt die Geschicke der Tiere und bestimmt ihr spezifisches, ihrer Art entsprechendes Verhalten.

Schon in leiblicher Beziehung ist der Mensch ein Wesen, das nicht wie das Tier allein von den Gesetzen seiner Art bestimmt wird. Jeder Mensch ist einzigartig. Kein Mensch gleicht dem anderen. Sein Gehirn bildet die physische Grundlage des denkenden Geistes. Durch den denkenden Geist ist er in der Lage ein Bewusstsein von sich selbst zu entwickeln, und dank seines Selbstbewusstseins kann sich der einzelne Mensch als selbständiges, abgeschlossenes Wesen bezeichnen. Als Ich stellt er sich der Welt gegenüber und verbindet mit seinem Ich alles, was er als leibliches und seelisches Wesen erlebt. In seinem Ich kann der Mensch die höchste Äußerung des Geistig-Wesenhaften aufleben lassen. Damit hält der aus sich selbst heraus seiende und sich selbst erkennende Geist Einzug in seiner Seele. Er macht aus dem Menschen ein individuelles, freies Wesen, das die Potenz hat, sich nach sich selbst zu formen.

Äther-, Astralleib und physischer Leib dienen dem im Ich des Menschen lebenden Geist, der diese wiederum verwandeln und ihnen ein von ihm durchstrahltes, reicheres Dasein geben kann. Jeder Mensch trägt die Bedingungen dafür in seinem Wesen. Durch lebenslanges Üben kann er diese Verwandlung vollziehen. Das Leben selbst ist schon eine fortwährende Übung, es stellt uns immer wieder vor neue Herausforderungen. Durch Kultivierung unserer Seeleneigenschaften versetzen wir uns in die Lage, deren Botschaften zu verstehen und durch deren Bewältigung neue Kräfte zu gewinnen. Diese Form der Selbsterziehung ermöglicht uns einen „neuen“ Menschen in uns heranwachsen zu lassen (siehe dazu unsere Artikelreihe „Übungen für die Seele“).

Wie sich die Pflanze ihre Stoffe aus dem Boden holt, um sich zu entwickeln, so holt sich das Ich des Menschen seine Stoffe aus der geistigen Welt. Wie die Pflanze verdorren müsste, wenn sie das nicht könnte, so müsste der Mensch verdorren, das heißt nicht vollständig Mensch werden, wenn er aufhören wollte, sich geistig zu nähren. Aus der geistigen Welt schöpft er gesundende und ihn erhaltende Kräfte¹.

Es besteht heute leider die Neigung, diese Kräfte wenig bis gar nicht zu schätzen. Das Verständnis vom eigentlichen Wesen des Menschen nimmt ab. Die menschliche Geistigkeit ergibt sich der materiellen Gefangenschaft. Aus dieser Gefangenschaft will uns die Anthroposophie befreien. Sie will uns anleiten, im materiellen Leben stehend, den Geist zu finden.

Suchet das wirklich praktische materielle Leben,
Aber suchet es so, dass es euch nicht betäubt
Über den Geist, der in ihm wirksam ist.
Suchet den Geist,
Aber suchet ihn nicht in übersinnlicher Wollust,
aus übersinnlichem Egoismus,
Sondern suchet ihn,
Weil ihr ihn selbstlos im praktischen Leben,
in der materiellen Welt anwenden wollt.
Wendet an den alten Grundsatz:
„Geist ist niemals ohne Materie, Materie niemals
ohne Geist“ in der Art, dass ihr sagt:
Wir wollen alles Materielle im Lichte des Geistes tun,
Und wir wollen das Licht des Geistes so suchen,
Dass es uns Wärme entwickele für unser praktisches Tun.

Aus „Wahrspruchworte“, Rudolf Steiner

¹ siehe Johannesevangelium, 4, Das Gespräch mit der Samariterin

Die Kreatur

Als ob kein bißchen was von Schwere
Auf uns’rer lieben Erde wäre,
Hüpft es herum, mal hier, mal da
Und sucht nach Futter, fern und nah.
Nur hier herunten will’s nicht bleiben,
Will in der Höh’ herum sich treiben.
Erklimmt den Baum, schau wie behände,
Erreicht im Nu des Zweiges Ende.

Läuft schon dahin den nächsten Ast,
So hurtig schnell und ohne Rast,
Und springt, als gäb’ es keine Kluft,
Als wär’ sein Lebensraum die Luft,
Dem ander’n Baum ins dicht‘ Geäst,
Hält sich mit seinen Krallen fest,
Und weiter geht der kühne Lauf
In himmelsnahe Höh’n hinauf.

Doch – liebes Tier – was willst du wagen?
Wähnst du von Flügeln dich getragen?
Zu fern des nächsten Baumes Ast!
Verderben bringt die blinde Hast!
Du spielst mit deiner Leichtigkeit,
Gleich bringt der Sturz dir arges Leid!
Doch, schon ist der Sprung getan.
Es fällt, die Tiefe zieht es an.

Jedoch sieht’s aus, als wär’s kein Fall.
Es streckt von sich die Beinchen all,
Und wie gesichert durch ein Band,
Und hold geführt von Geisterhand
Scheint es dem Abgrund zuzuschweben,
Als ging’s ihm nicht ans junge Leben.
Da ist ein Ast mit Laub bestückt,
Und, siehe da, die Landung glückt.

So schön zeigt uns die Kreatur
Das weise Wirken der Natur.

Norbert Liszt

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