Rudolf Steiners Jahre in Wien, eine Kurzbiographie
Text: Volker Mastalier
Rudolf Steiner wächst in den Lebensbedingungen des Vielvölkerreichs Österreich-Ungarn auf, geht täglich von Ungarn nach Österreich in die Wiener Neustädter Realschule und kommt 1879 18-jährig nach Wien, um an der technischen Universität zu studieren. Er verlässt Wien nach elf Jahren, um in Weimar an der großen Sophien-Ausgabe von Goethes Werken mitzuarbeiten.
Sein Bestreben die Geistwelt, die ihm offenstand, in ihren irdischen Abdrücken wieder zu finden, erfährt in der Wiener Zeit vielfältige Anregungen. Schon 1880 begegnet er dem tief in die Natur schauenden Kräutersammler Kogutzki, zwei Jahre darauf seinem Initiator – nachdem ihm inzwischen eine schlaflose Nacht das Erleben seines zeitlosen Selbst gebracht hat. Mit diesem Hintergrund nimmt er alle Anregungen auf, die der äußerst reiche und vielfältige Wiener Wissenschaftsbetrieb auf den Hochschulen, in den „Kreisen“ und in Einzelbegegnungen ihm eröffnet. Ihn zieht jede konsequente Gedankenführung an, insbesondere wenn sie seinen Überzeugungen zuwiderläuft. 1886, als er die „Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung“ herausbringt, ist er geschätzter Gast im antigoetheanistisch gestimmten Kreis um Eugenie delle Grazie und prüft und festigt an den Auseinandersetzungen seinen eigenen Standpunkt. Er schätzt die radikalste naturwissenschaftliche Anschauungsweise in ihrer österreichischen Eigenart, wo diese Gedankenschärfe oft gemüthafte Seiten hat. Gegenseitige Wertschätzung verbindet ihn mit dem weltbekannten Geologen Eduard Süß, der Goethes Naturanschauung sehr nahesteht. Von ihm nimmt er den Hinweis auf, dass unter Wien alle geologischen Qualitäten Europas zusammenströmen. Das führt ihn zu der Erkenntnis, dass im Untergrund der Stadt die Schale gebildet für ihre besondere Musikalität ist.
Goethe ist – schon in Wien – der Mittel-, Dreh- und Bezugspunkt, um den Steiner seinen Erkenntnisweg aufbaut. Er übernimmt ab 1882 die Herausgabe von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften für die Kürschner-Ausgabe und schließt diese Arbeit kurz vor seinem Weggang aus Wien mit dem dritten Band ab. Auf diesem Weg entstehen die schon erwähnten „Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung“ 1886, die Arbeit an seiner Dissertation beginnt, die dann als „Wahrheit und Wissenschaft“ erscheint und sein erkenntnistheoretisches Hauptwerk „Die Philosophie der Freiheit“ wird grundgelegt.
Durch die ganze Wiener Zeit ist Rudolf Steiner von Karl Julius Schröer begleitet, dem „exotischen“ Lehrer für Philosophie an der Technischen Hochschule, der nicht in die nüchterne naturwissenschaftliche Erkenntnisart seiner Zeit passt, aber doch mit dem gemüthaften Grundzug zusammenstimmt, der die Wiener Gelehrsamkeit kennzeichnet und einigermaßen tolerant und offen hält. Schröer führt Steiner auf die Spuren Goethes, vermittelt ihm die Mitarbeit an der Kürschnerschen Goethe-Ausgabe, führt ihn in die Kreise ein, die Steiner in seiner Entwicklung fördern, kümmert er sich auch um Steiners Existenzgrundlagen, als er das Studium an der Technischen Hochschule ohne Abschluss abbricht und sein Stipendium verliert. Er wird auf Vermittlung Schroers „Hofmeister“ der jüdischen Familie Specht und bleibt es bis zu seinem Abgang nach Weimar. Er erzieht die Kinder, wobei er besonders bei der Arbeit mit dem behinderten Sohn grundlegende pädagogischen Erfahrungen sammelt. Insbesondere mit der Mutter, Frau Specht steht er in sehr freundschaftlicher, geistig anregender Beziehung. Er muss auch erleben, wie seine Darstellung, dass die „jüdische Denkart“ aus rein geistiger Sicht nicht mehr zeitgemäß sei, den Kaufmann Specht wohl sehr verstimmt, er aber großmütig Steiner als Erzieher seiner Kinder weiterhin sehr schätzt und in keiner Weise in Frage stellt.
Schröer, die Familie Specht und die von Steiner besuchten Kreise, die großteils noch in den Nachklängen der Klassik aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verankert sind, geben Steiner Hülle und Schutz, um für sein späteres öffentliches, europaweites Wirken den Grund zu legen. Er lebt sich in Wien in die mitteleuropäischen natur- und geisteswissenschaftlichen Denkrichtungen seiner Zeit ein, in der sich der Materialismus vielfältig ausgestaltet und seinen Höhepunkt erreicht. Daran schärft er seine Erkenntnisart und sichert seinen Erkenntnisweg.
In dem Wissenschaftler Goethe findet er einen Vermittler, der von den sinnlichen Phänomenen in Kunst und Wissenschaft aus zu den rein geistigen Verursachungen vordringt und Steiner davon abhält, zu rasch und einseitig in rein geistige Gefilde aufzusteigen. Dadurch beginnt sich das weite Feld der angewandten Geisteswissenschaft vor ihm auszubreiten, auf dem die Anthroposophie so reiche Früchte tragen wird. Zu Goethes Kunstverständnis findet Steiner erst, nachdem er die „Grundlinien …“ ausgearbeitet hat. In dieser ersten erkenntnistheoretischen Abhandlung sieht er in der Kunst noch das Erscheinen von für sich ergründbaren, im Grunde unverborgenen Geistgesetzen. Der Grundsatz von Goethes Ästhetik dagegen ist, dass alles Künstlerische vom Wirklichen, von der Sinneswelt ausgeht und diese so umgestaltet. In ihr erscheint dann der geistige Hintergrund. Von der Ideenwelt her betrachtet drückt das Goethe so aus: „Das Schöne ist eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die uns ohne dessen Erscheinen ewig wären verborgen geblieben.“ Rudolf Steiner in seinem ersten – schriftlich erhaltenen – Vortrag „Goethe als Vater einer neuen Ästhetik“ (9.11.1888) setzt den Gegensatz von alter und neuer Ästhetik so ins Bild: „… das Schöne ist nicht das Göttliche in einem sinnlich wirklichen Gewand, nein, es ist das sinnlich Wirkliche in einem göttlichen Gewand. Der Künstler bringt das Göttliche nicht dadurch auf die Erde, dass er es in die Welt einfließen lässt, sondern dadurch, dass er die Welt in die Sphäre der Göttlichkeit erhebt.“ Der Weg von der Anregung aus der äußeren Welt und ihren Bedürfnissen zum Innehalten, Ergreifen der Idee im Innern, und weiter zur Außenwendung in die Geistesgründe, die den Willen zur Tat entfachen, wird Steiners Lebensprinzip.
Gegen Ende seiner Wiener Zeit kündigen sich schon sehr deutlich wie Keimsetzungen Steiners Außenwendungen in die Erneuerung der Künste und der praktischen Lebensbereiche an. 1888 übernimmt er fünf Monate lang die Redaktion der „Deutschen Wochenschrift“, wobei er sich scharf mit der Politik des damaligen Ministerpräsidenten Taaffe mit der Grundhaltung auseinander setzt, das deutsche Kulturgut in dem Vielvölkerstaat zu schützen und zu stärken. Entschieden wendet er sich gegen den Stil des Feuilletons, in dem der Journalismus selbstgefällig zu verkommen droht. In dasselbe Jahr fällt – wie besprochen – sein Vortrag über Goethes Ästhetik, in dem er mit Goethe alle Kunst als einen Prozess darstellt, der von den Sinnen ausgeht und neue Geistwelten erschließt, und nicht – wie früher von ihm postuliert – die Geisterkenntnis voransetzt. Im Jahr 1889 wird er in den theosophischen Kreis um Marie Lang eingeführt, wobei ihn nicht so sehr die theosophischen Inhalte interessieren – er bezeichnet sie als Schwachsinn – als die kraftvollen Persönlichkeiten, die dort auftreten. Dort lernt er auch Rosa Mayreder kennen, eine klardenkende Malerin und dann Schriftstellerin, mit der er jene Probleme besprechen kann, die ihn im letzten Wiener Jahr bewegen und in ihm noch reifen müssen: Die „Philosophie der Freiheit“, Nietzsches „Jenseits von Gut und Böse“ und Goethes „Märchen von der grünen Schlange“. Im selben Jahr beginnt er seinen Gesichtskreis mit den ersten Auslandsreisen nach Deutschland, Ungarn und Siebenbürgen zu erweitern, wo er Theaterkritiken und Aufsätze für die „Nationalen Blätter“ verfasst.
Rosa Mayreder
Rudolf Steiner und die Wiener Moderne
Wien bewahrt sich im „fin de siècle“ trotz der großen äußeren Umbrüche und als Gegengewicht dazu einen reichen seelischen Innenraum. Die Stimmung der mitteleuropäischen Klassik lebt vom musikalischen Element getragen im Gemüt der Menschen länger fort. Sie ist weniger von Verstandeskräften überlagert als in anderen Metropolen, dafür aber mehr und unmittelbarer dem unterbewussten Triebleben ausgesetzt. Der Wirtschaftsliberalismus etwa mit seinen abstrakten Marktgesetzen herrscht in Wien vergleichsweise kurz, nicht nur der Entwicklung in allen Industrieländern folgend, sondern als ungeeignetes Instrument für die wirtschaftliche Diversität der Monarchie und auch vom hochgebildeten und kunstbeflissenen neuen Großbürgertum nicht so sehr verinnerlicht. Das reichte aber nur dafür aus, alte Werte zu beleben und den Materialismus künstlerisch-dekorativ zu verbrämen, wie das die Ringstraßenbauten so großartig zur Schau stellen. Hermann Broch bezeichnet das Wien dieser Zeit als das Zentrum des europäischen Wertevakuums. Sein Urteil mag der Relativierung von überkommenen Werten in einer pluralistischen Kultur und der gegenseitigen politischen Lähmung gerecht sein. Ohne stürmenden, einseitig mitreißenden Geist und in den rumorenden, zurückgehaltenen Willenskräften, in der Windstille abwägenden Gemüts, in diesem durchklungenen „Wertevakuum“ konnte Neues, nur in Wien Mögliches, Wurzeln schlagen.
Die Wiener Moderne ist aus der scheinbar glatten, fortschrittsgläubigen materialistischen und künstlerisch unfruchtbaren Oberfläche der „Gründerzeit“ hinunter gestiegen in die Tiefen des Unterbewussten, wo der „homo psychologicus“ seine Antriebe empfängt und seine Leidenschaften und Ängste auslebt. In der Seelenforschung und in den Künsten wurden diese verdeckten Seiten des Menschen, auch die erstarrten, verbrämten Konventionen und Alltagsverrichtungen ans Licht gehoben und eindringlich gestaltet. Der Anspruch war, die Gesellschaft von Grund auf in Aufrichtigkeit umzuformen. Das Gegenteil geschah, die Umbrüche und Kriege des 20. Jahrhunderts legten noch viel tiefere Abgründe der Seele offen. Nach dem Ersten Weltkrieg blühten Impulse der Wiener Moderne im weltweit beachteten sozialen Wohn- und Städtebau des „Roten Wien“ auf. Das künstlerische Schaffen lebte weiter auf hohem Niveau bis zum Bürgerkrieg, der Nationalsozialismus löschte es aus.
Was außer dem Geschaffenen nachhaltig blieb, war die Erinnerung und Sehnsucht nach dem besonderen Wiener Ambiente dieser Zeit, dem sozialen Grundgeflecht, auf dem die Wiener Moderne gedeihen konnte. Es war der weltweit einmalige Ansatz zu einem Gesamtkunstwerk aus sozialen Fähigkeiten, der keine Bühne brauchte. Shakespeares „All the world‘s a stage“ teilt die Welt in Spieler und Zuschauer. In der Gesprächskultur der Wiener Kreise, Salons und Cafés sind sie in ständigem Rollenwechsel eins und agieren auf gleicher Ebene. Im geistreichen Gespräch umspinnt sich der Ausgangspunkt, eine Beobachtung, Behauptung, Frage, mit mehr und mehr Leben und wird von einem Lichtstrahl zu einem faustischen Willensimpuls. Das Gespräch ist „erquicklicher als Licht“ (Goethe) und Grundstein der sozialen Kunst, die an der Spitze aller Künste steht und Gesamtkunstwerk werden will. In seinen späteren Darlegungen zur „Dreigliederung des Sozialen Organismus“ gestaltet Rudolf Steiner den lebendigen Rahmen aus, in dem alle Lebensbereiche einer Gemeinschaft ihre Eigenheit erhalten, gerade dadurch zusammenklingen und nicht zentralistisch verarmen.
Der revolutionäre Schritt, mit dem die „Wiener Moderne“ sich von Historismus und Ästhetizismus frei macht, stellt wie Goethes und Steiners Ästhetik die Phänomene und irdischen Erfordernisse voran. Das Trieb- und Seelenleben wird aufgedeckt und im Grunde auch als dem Ich entglittene Außenwelt erlebt, die durchdrungen und durch Kunst verwandelt sein will. Allerdings fehlt dieser erkundenden Außenwendung noch die Erfahrung einer realen geistigen Welt, in der sich die sinnliche Wirklichkeit neu kleiden und die Entfremdung tatkräftig überwinden könnte. In der zweiten Welle der „Wiener Moderne“ beginnt sich der Horizont ins Übersinnliche zu lichten. Eine dritte Welle, die den geistigen Durchbruch hätte bringen können, wurde vom Zeitgeschehen überrollt.
Wogegen die Wiener Moderne revoltiert, steht Rudolf Steiner in den Ringstraßenbauten eindringlich vor Augen. Er selbst ist von der unfruchtbar gewordenen bürgerlichen Kultur nicht belastet und sucht seinen Weg in der Begegnung und Auseinandersetzung mit jenen höchst vielfältigen und auch gegensätzlichen Strömungen und Persönlichkeiten des Wiener Kulturlebens, die noch in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts verankert sind. Alles Geistreiche, auch wenn es seinen Anschauungen zuwiderläuft, regt ihn an, und er verarbeitet es so, dass auch die geistige Welt daran Anteil nehmen kann. Mit der Wiener Moderne kommt Rudolf Steiner nur anfänglich in Berührung, er verlässt Wien (1890) sieben Jahre vor der „Sezession“, dem Auszug der jungen bildenden Künstler aus der Künstlergenossenschaft (1897). In literarischen Kreisen allerdings wurde der Aufbruch schon früh heftig diskutiert. Im Café Griensteidl am Michaeler Platz trifft Steiner auf Hermann Bahr, der in seinem Kreis die Moderne verficht, und gerät mit ihm – zum Genuss der Zuhörer – in hitzige Debatten. Für Steiner ist damals die Moderne „… das wahnwitzige Gefasel des unreifen und ohne dem Streben nach Reife beseelt auftretenden Geschlechts.“ Er steht in Opposition zu jedem oberflächlichen, Kulturbetrieb, verteidigt Hamerling und Anzengruber in einem Krieg gegen den feuilletonistischen Journalismus, den Karl Kraus in der „Fackel“ weiterführt. Das Zusammenwirken jener Kreise etwa um Freud, Mahler, Schnitzler, Kraus, die von der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs Geburtsstätten der Wiener Moderne sind, erlebt Steiner nicht mit.
Mit zeitgenössischer Literatur setzt sich Steiner schriftlich erst nach den Wiener Jahren auseinander. Für den Standort Wien aufschlussreich ist seine Charakterisierung von Hugo v. Hofmannsthal als einen in die Schriftstellerei versetzten Musiker, der in Vokalen komponiert.
Weiterführende Literatur:
Christoph Lindenberg, Rudolf Steiner, Eine Biographie
Martina Maria Sam, Rudolf Steiner, Die Wiener Jahre