Text: Christa Horvat, Bild: Märchenbühne der Apfelbaum.
Stehe ich an einer befahrenen Straße und möchte diese überqueren, so machen mir die vielen vorbeiflitzenden Autos Angst und ich schaue genau nach rechts und links, um den rechten Augenblick und den Mut zu finden die Überquerung zu wagen.
Angst und Mut ergänzen einander. Kenne ich die Angst nicht, so kann ich tollkühn oder leichtsinnig in einer Situation agieren und mich und andere in Gefahr bringen. Das hat nichts mit Mut zu tun. Da handelt man unreflektiert, gedankenlos, vielleicht auch egoistisch, weil einem die Herausforderung Spaß macht, oder aus Eitelkeit, um sich zu beweisen, oder aus Gier, um einen Nutzen davon zu haben.
Märchen spielen im Königreich der Seele und nicht in der Alltagsrealität, in der man mit tollkühnen Aktionen durchaus Erfolg haben kann. Im Märchen ist das anders. Hier zählt Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit. Ein wunderbares Beispiel dafür finden wir im Märchen der Frau Holle. Die Fleißige kehrt goldbedeckt aus dem Reich der Frau Holle nach Hause zurück, die Faule dagegen mit Pech übergossen.
Goldmarie und Pechmarie wohnen in einem Haus. Auch wir können beide Charaktere in unserer Seele finden. Sie zeigen uns deutlich was wahrer Mut ist. Die Pechmarie im Märchen der Frau Holle ist gierig nach dem Gold, springt ohne Angst in den Brunnen, folgt keiner Aufforderung Hilfe zu leisten und denkt nur an den Gewinn dieses Unternehmens, den Goldregen. Da hat sie Pech gehabt, und das war auch ihr Lohn. Das ist die Antwort der Frau Holle. Die Pechmarie ist jener Teil in uns, dem die Stiefmutter, die Frau Welt, zugetan ist, denn sie ist Bild für den materiellen Anteil unserer Existenz, die uns an die Triebe und Begierden bindet. Die Lebensbedingungen in dieser Welt sind erbarmungslos und so kommt es, dass die Pechmarie, die sich den Mühen einer Weiterentwicklung entzieht, bevorzugt wird.
Anders verhält es sich im Reich der Frau Holle. Ein tiefer Brunnen trennt die beiden Welten. Die Welt der Frau Holle verweist uns auf ein Jenseits, eine urmütterliche oder urväterliche, paradiesische Schöpferwelt, in der die Gesetze der irdischen Welt nicht gelten, in der die Tiefen der Seele das Geistige in uns berühren. Wir tragen dieses Reich verborgen in uns. Um dort zu bestehen, brauchen wir Mut.
Dieser Mut aber muss in der Welt entfaltet, entwickelt und erfasst werden. Denn Leben bringt Leiden und die sind nur mit stoischem Mut zu ertragen. Werfen wir einen Blick auf die Goldmarie. Sie ist diejenige, die alle Arbeit im Hause zu tun hat und „… sie muss sich täglich auf die große Straße bei einem Brunnen setzen, und muss so viel spinnen, dass ihr das Blut aus den Fingern sprang“. Beim Spinnen wird aus der lockeren, weichen Wolle ein fester Faden, eine Verdichtung, wie wir sie auch in unseren Gedanken herbeiführen, wenn wir konzentriert denken. Wird die Spule blutig und fällt in den Brunnen, reißt der Gedankenfaden ab. Goldmarie will weiterspinnen, das vollenden, was sie begonnen hat, das, womit sie sich mit dem ganzen Herzen, dem Herzblut verbunden hat. Sie springt, die Angst überwindend, voll Mut in den Brunnen und wagt damit den Sprung ins Ungewisse.
Wahrer Mut fordert den Einsatz der ganzen Persönlichkeit. So geht es häufig jenen, die für eine gute Sache, die sie für wichtig halten, eintreten. Es braucht Mut, um den inneren Egoismus zu überwinden, der auf der Seele lastet und zum Absturz führen kann, wie bei der Pechmarie. Mit Verantwortungsbewusstsein für das Zukünftige ist man stündlich vor Entscheidungen gestellt. Man kann notwendige Taten vollziehen oder unterlassen. Man braucht Mut, um etwas zu tun, wovor man zunächst zurückschreckt, weil man erkennt, dass es wichtig ist. Goldmarie zeigt uns diesen Weg, der anfangs wie ein Umweg aussieht. Sie versorgt jene, die sie um Hilfe bitten und verliert das Ziel, die Spindel wiederzufinden, nicht aus den Augen. Sie überwindet ihre Furcht vor der Frau Holle, dient ihr und wird von ihr gut behandelt. Trotz alledem hat sie das Verlangen, zu ihrer Stiefmutter zurückzukehren. Vor ihrer Heimkehr wird sie mit Gold belohnt und bekommt die Spindel wieder.
Gold im Märchen ist das Bild für Weisheit. Weisheitsgold aber muss in den Alltag, in das persönliche Umfeld integriert werden, wenn es nicht Selbstzweck bleiben soll. Goldmarie hat stoischen Mut, ihr Schicksal zu bejahen erworben und kann gereift ihren Weg vollenden.
Hermann Hesse beschreibt diesen Mut ganz wunderbar in seinem Gedicht „Das Leben, das ich selbst gewählt“. Mut, sein Schicksal zu bejahen und es anzunehmen führt zur Erkenntnis, dass es zu mir gehört und ich mich damit weiterentwickeln kann. Erkenntnismut erlöst uns von der Angst vor Schicksalsschlägen und führt uns in unsere seelischen Tiefen, in die unsterbliche verborgene Welt der Frau Holle, zu unserem Wesenskern. Diese Erlösung, bewirkt von der Goldmarie, gilt vor allem der Pechmarie in uns.
Jeder Schritt, den wir auf der Suche nach Erkenntnis machen und mit dem wir uns für das einsetzen, was wir als wahr erkennen, braucht Mut, der uns in die Zukunft führt. Den Weg zu diesem Mut zeigen uns viele Märchenhelden und Heldinnen. Am Ende vieler dieser Märchen kommt es zur Erlösung. Dornröschen wird aus dem Schlaf erweckt, Rotkäppchen aus dem Bauch des Wolfes geholt, im Froschkönig und in Schneeweißchen und Rosenrot bekommen Frosch und Bär die menschliche Gestalt wieder. Hänsel und Gretel finden, die Taschen voll Gold und Edelsteinen, den Weg nach Hause wieder.
Die Monatstugend von Rudolf Steiner für den Jänner drückt das, wovon uns Märchen erzählen, mit einem Satz aus:“ Mut wird zu Erlöserkraft.“