Kann eine Katastrophe zum Wandel führen?

Warum Rudolf Steiner Mitteleuropa erhalten wollte
Text: Reinhard Apel

7. Mai 1919, Die Stimmung bei Übergabe der Friedensbedingungen
Trotzig aber auch bedrückt betritt die deutsche Delegation den Spiegelsaal von Versailles. Die Sieger der Entente werden nun den besiegten Deutschen die Friedensbedingungen übergeben. Noch aber haben die deutschen Verhandler Hoffnung, dass die Bedingungen erträglich sein werden. Denn die abgeworfenen Flugblätter der Amerikaner sprechen von einem Frieden ohne Verlierer und die bekanntgewordenen „14 Punkte“ des US-Präsidenten Wilson klingen durchaus hoffnungsvoll. Hatte Woodrow Wilson doch 1917 gesagt: „Die Deutschen haben ihre Regierung nicht gedrängt, in den Krieg einzutreten. Sie haben nichts davon gewusst und nicht zugestimmt. Wir wollen das deutsche Volk nicht zur Verantwortung ziehen ….“ Zudem war es dazumal in Europa nicht üblich den Verlierer eines Krieges ganz an die Wand zu drücken. Man holte sich Kompensation und Territorien, aber der Bezwungene konnte weiter existieren. Die Deutschen betrachten die übergebenen Blätter und erste Äußerungen des Unmutes werden laut. Deutschland muss nun wegen des Durchmarsches durch Belgien die Alleinschuld am Krieg anerkennen und wird deshalb neben dem Verlust aller Kolonien in Übersee auch 7 Prozent des europäischen Territoriums abgeben und unfassbar hohe Reparationen bezahlen müssen, die eine finanzielle Kompensation der Sieger darstellen.
Natürlich waren viele Vertreter der Sieger der Meinung, dies alles sei rechtens. So merkte der französische Diplomat Paul Cambon an: „Als die Deutschen hereinkamen bemitleideten wir sie, als sie gingen, waren wir wütend“. Das Zitat bezieht sich auf vorgebrachten deutschen Widerspruch. Andererseits meinte der amerikanische Außenminister Robert Lansing, der über den Sinneswandel seines Präsidenten vom sanften Friedensengel zum strengen Zuchtmeister Deutschlands nicht begeistert war: “Die Friedensbedingungen erscheinen unsagbar hart und demütigend, während viele von ihnen mir unerfüllbar scheinen.“ Und an anderer Stelle „Hass und Erbitterung, wenn nicht Verzweiflung, müssen die Folgen derartiger Bestimmungen sein.“
Das Verhältnis der drei Weltgegenden
Der im letzten Beitrag erwähnte „Eiserne König“ war herausgefordert worden und hatte nach seinem zu erwartenden Sieg den Schuldspruch über den „Silbernen König“ gefällt. Die formellen deutschen Gegenvorschläge wurden abgeschmettert. Aus heutiger Sicht ist der Frieden von Versailles irgendwie noch verständlich, weil wir ihn logischer Weise durch die Linse der völligen Niederlage Deutschlands von 1945 mit nachfolgender Besetzung anschauen. Und gerne übertragen wir auch die Kriegsschuld der Nazis auf die diplomatische Lage der Deutschen 1918/19 in den Vororten von Paris. Aus Sicht des Autors und wie in bisherigen Beiträgen dargestellt, ist das nicht aufrechtzuerhalten. Es lag vielmehr eine internationale Konkurrenzsituation in den Kolonien und im Welthandel vor, die irgendwann in einem Krieg sich entladen musste. Der Westen hatte gar nicht vor, diese schiefe Ebene zu glätten, was allerdings durch seine Wesensart als „Eiserner König“ verständlich wird. Und Mitteleuropa, seines Zeichens der „Silberne König“ verabsäumte es, das Wissen und die Weisheit zu entwickeln, um die Kollision mit dem „Eisernen König“ abzuwenden oder sich gar in ein lebbares Verhältnis mit ihm zu setzen. Diese Weisheit war für Mitteleuropa in Weiterentwicklung der Impulse der Deutschen Klassik durchaus zu erlangen, wenn auch nur durch intensive Arbeit an sich selbst. Weshalb Rudolf Steiner meinte: „Der Engländer ist etwas, der Deutsche kann nur etwas werden.“ Das sich Mitteleuropa dem Biedermeier und einem kulturellen Dahinträumen ergeben hatte, war eine wesentliche Vorbedingung für das Hineinschlittern in den Ersten Weltkrieg. Das war die eigentliche im Seelenhintergrund vorhandene Schuld der Deutschen und Österreicher an dem Weltenbrand von 1914 bis 1918. Was in Versailles vom Westen an Argumenten für die Alleinschuld Deutschlands vorgebracht wurde (also von den siegreichen Engländern, Franzosen und Amerikanern) war nur eine Abrechnung mit dem Feind. Aus Steiners Sicht war die ungerechte Behandlung der Mitte durch den Westen, hintergründig gedacht, durchaus selbstverschuldet, nach allgemeinen politischen Kriterien aber nicht gerechtfertigt. Die Abrechnung durfte nicht zu extrem werden, damit Mitteleuropa sich in irgendeiner Form doch wieder fangen und endlich zur Entwicklungsarbeit an der Individualität kommen konnte. Denn einerseits liegt die Existenzberechtigung Mitteleuropas eben in dieser inneren Kultivierung, die dem Westmenschen viel schwerer fällt. Ihm wird im Herrschaftsbereich des „Eisernen Königs“ die materielle Welt gehorchen wird und er sich darin verlieren kann. Was sich hier wieder einmal nicht näher ausführen, aber in der anthroposophischen Literatur auffinden lässt, ist folgende Idee: Der Westen wird sich a´ la longue im Materialismus verstricken (zum Beispiel in der Konstruktion von Cyborgs, von denen Steiner natürlich noch nichts wusste), wenn ihm nicht eine kulturschaffende Gabe aus der Mitte zu Hilfe kommt, aus einer dort zu entwickelnden Kultur des Ausgleichs und des immer neu zu findenden beweglichen Gleichgewichtes. Deshalb darf der Westen die Mitte nicht im Siegestaumel völlig strangulieren, weil er ihre Gabe später dringend brauchen wird, wenn der Mensch dort Mensch bleiben will. Andererseits kann sich der Mensch im östlich gelegenen Reiche des „Goldenen Königs“ allzu leicht im Geistigen verlieren und wird es immer schwer haben, die physische Existenz voll zu ergreifen. Also braucht auch er den Beistand aus einer Kultur des beweglichen Gleichgewichtes. Und die Ansätze dazu sah Steiner eben in der mitteleuropäischen Kulturspitze des Deutschen Idealismus, die einen Goethe aussprechen ließ:
Im Atemholen sind zweierlei Gnaden: Die Luft einziehen, sich ihrer entladen. Jenes bedrängt, dieses erfrischt. So wunderbar ist das Leben gemischt.
Da spürt man das Verständnis von Hin- und Her, die Hingabe an verschiedene Qualitäten. Und jetzt sollte in Versailles dieser Mitte die Luft abgeschnürt werden …. Was würde dann in der Zukunft aus dem Westen werden? Was aus dem Osten? Nur scheinbar trat der deutschsprachige Eingeweihte 1919 als Advokat der Mitte auf. Eigentlich hatte er das Wohl aller drei Könige aus Goethes Märchen im Auge. Aber dazu musste erst einmal das Reich des Silbernen Königs erhalten werden. Es musste ein eigenständiges mitteleuropäisches Kulturgebiet aus dem ersten Weltkrieg hervorgehen. Und das in lebensfähiger Form. Deshalb durfte die Deutsche (und Österreichische) Alleinschuld am Kriege nicht zur Basis des Friedens werden. Erstens war es eine Konstellation der Großmächte gewesen, die zum Krieg drängte und eine Alleinschuld, also ein einziger Hai unter netten Sardinen, hatte nie existiert. Vielmehr hatten sich mehrere Raubfische jahrelang argwöhnisch umkreist. Und zweitens waren die Friedensbedingungen eben wegen der Alleinschuld so unglaublich hart (Ausmaß der Reparationen), dass Mitteleuropa seine Mitte dann nicht mehr würde finden können, sondern ohne weiteres durchdrehen konnte. Das ist ja in Form des Nationalsozialismus ab 1933 auch geschehen.
Rudolf Steiners Vorstoß
Bereits am 25. und 27. Jänner 1919 hatte Rudolf Steiner während einer Dornacher Besprechung mit Emil Molt, Hans Kühn und Roman Boos den Entschluss gefasst, neben der Begründung der Waldorfschule und der Publikation eines Aufrufs an das deutsche Volk (im Sinne der Sozialen Dreigliederung), die Betrachtungen und Erinnerungen Helmuth von Moltkes über die chaotischen Vorgänge zwischen den Hauptbeteiligten auf deutscher Seite bei Kriegsausbruch in Berlin herauszugeben. Helmuth von Moltke war ja im Sommer 1914 Generalstabschef und eine dieser Personen. Steiner hatte privaten Kontakt zur Familie Moltkes, weil Eliza von Moltke-Huitfeldt Anthroposophin und eine Schülerin Steiners war. Dadurch wusste er von den Aufzeichnungen des Generals, die ursprünglich nur für Eliza bestimmt waren, aber die weltgeschichtliche Lage beeinflussen konnten. Die Zustimmung zur Veröffentlichung von Moltkes Witwe wurde gegeben. Es ging um nicht mehr oder weniger als die Offenlegung der Unfähigkeit der deutschen Politik bei Kriegsausbruch, die den Glauben an eine gezielte deutsche Welteroberungsstimmung konterkarieren würde. Der Durchmarsch durch Belgien war einfach eine festgelegte Generalstabsplanung und keineswegs aus der Lust geboren, neutrale Völker zu überfallen. Die Politik wurde von der Kriegsbereitschaft Englands überrascht und nachdem der Kaiser nicht aus noch ein wusste, also keinerlei politische Ideen für diesen Fall zur Hand hatte, ließ er Moltke losmarschieren. Also saßen in Berlin im Sommer 1914 nur von den Ereignissen getriebene Personen, keine lustbetonten Eroberer. Damit war aber die Theorie von Deutschland als alleinigem Aggressor widerlegt, wenn der führende General bei Kriegsbeginn sinngemäß festhält: Der Kaiser als Oberbefehlshaber lässt lediglich den fixen Gereralstabsplan ablaufen, weil wir nur das als Mittel ansehen können, uns überhaupt in einem Konflikt der England einschließt zu bewähren. Wir haben gar keine politische Agenda, außer etwas Unvermeidbares durchzuhalten. Wir wollen einen Krieg überhaupt nicht. Wir reagieren. Wir haben keine bessere Idee, was man noch tun könnte, den Frieden zu erhalten. Wenn Krieg unvermeidbar ist, dann gilt eben der Generalstabsplan. Und da müssen wir durch Belgien, sonst ist alles gleich zu Beginn verloren (kursiv: kein Zitat, sondern vom Autor zusammengefasst).
Am 27. Mai war die Broschüre mit den Aufzeichnungen Moltkes versandfertig und der Bund für Dreigliederung verschickte eine Ankündigung der Broschüre zusammen mit einem weiteren Aufruf an das deutsche Volk und die deutsche Regierung, den Steiner verfasst und in dem er die Offenlegung der Kriegsursachen aus deutscher Sicht gefordert hatte. Damit war wohlgemerkt die Kriegsursache „politische Unfähigkeit“ gemeint. Alles war rechtzeitig zur Hand, um in Versailles Wirksamkeit zu entfalten und die deutsche Alleinschuld am ersten Weltkrieg zu Fall zu bringen. Was dann geschah ist einfach unglaublich. Aber es zeigt die „Fähigkeit“ der Anthroposophenschaft durchaus auch mal an sich selbst zu scheitern. Darüber mehr im nächsten Heft.

Permalink