Viel über sein Verhältnis zum Wesen der Deutschen steht bei Rudolf Steiner in der Schrift
„Gedanken während der Zeit des Krieges“, aus dem Jahr 1915.
Text: Reinhard Apel, Wien. Dezember 2019
Das war ein Jahr in dem sich der Erste Weltkrieg zwar schon in den Schützengräben festgefahren hatte, nachdem er bis zur Ablösung Helmuth von Moltkes als Oberbefehlshaber auf deutscher Seite ein Bewegungskrieg gewesen war. Die Deutschen wollten ursprünglich Frankreich ähnlich schnell besiegen wie 1870/71, dann im Westen mit beschränkten Gebietsgewinnen Frieden machen, und daraufh in dem erwarteten Ansturm der russischen Armee standhalten. Ein Zweifrontenkrieg wurde als zu bedrohlich erachtet und sollte vermieden werden. Man rechnete nicht damit, dass die neue Waff e Maschinengewehr den Verteidiger bevorzugen würde und die glorreiche Attacke nicht mehr entscheiden konnte, wie es durch die Reiterei 1870/71 noch möglich war.
Fichtes Ideale für Deutschland
In der oben erwähnten Schrift spricht Steiner von Hermann Grimm, von Treitschke dem Historiker, vom Philosophen Fichte und von einer Aufgabe, die das deutsche Geistesleben der Welt gegenüber hat. Von politischer Superiorität, Minderwertigkeit anderer Nationen oder von Eroberungen ist dort nichts zu fi nden. Ebenso wenig enthält die Schrift den völkischen Gedanken, der dann zum Zweiten Weltkrieg hin die Deutschen auf Abwege führte. Steiner bringt zum Ausdruck, wie im deutschsprachigen Raum wesentliche Kultur und Bewusstseinsleistungen erbracht werden sollen, die sukzessive in die allgemeine Menschheitsevolution einfl ießen. Eine Kultur sei die deutsch-sprachige, welche in gesunder Weise den Weg von der Materie zum Geist finden kann, zwischen beiden ein Gleichgewicht haltend. Fichte ist ihm ein Beispiel der Geistesnähe der deutschen Kultur. Goethe ein Weiteres. Diese Kultur braucht aber einen Entfaltungsraum zu Ihrer Entwicklung, eben das eigene Siedlungsgebiet. Wer bedenkt, dass die deutschen Staaten und Fürstentümer zu Fichtes Lebzeiten von Napoleon besetzt waren, versteht den Wunsch Fichtes und seiner Zeitgenossen nach Befreiung von Fremdherrschaft. Es ist absurd zu meinen, Johann Gottlieb Fichte (1762 – 1814), ein Mann den Gott vielleicht wirklich liebgewann, hätte irgendwelche Eroberungsgelüste gehabt. Wäre er der exakten Zukunftsvision fähig gewesen, er hätte ins Jahr 1933 blickend in Adolf Hitler einen ins Dä-
monische verzerrten Napoleon sehen müssen, der in gänzlich undeutscher Manier versucht, anderen Völkern seinen Willen aufzuzwingen. Ein Deutscher als neuer Napoleon, als neuer Xerxes! Das wäre für Fichte ein vollständiger Widersinn gewesen. Der Konfl ikt von 1914 – 1918 hingegen wäre ihm noch als berechtigte Geste der Abwehr erschienen. Zunächst durft e man 1915 durchaus glauben, dass ein unvermeidlicher Konfl ikt vorliege, in dem sich Deutschland und Österreich einfach nur zu behaupten hätten. Mit dem Beginn des Gaskrieges (April 1915) in Verbindung mit dem Stellungskrieg änderte der Erste Weltkrieg seinen Charakter und wurde zu einem Zermürbungsakt von bis dato ungekanntem Ausmaß, indem unzählige Soldaten für nahezu keine Frontveränderungen ihr Leben lassen mussten.
Deutschlands politische Fehleinschätzung
Es sei hier festgehalten: In Deutschland sah man vor 1914 den Krieg als etwas Unvermeidliches an, als ein Ereignis aber, dass man in den verantwortlichen Kreisen nicht herbeiwünschte. Dazu war der drohende Zweifrontenkrieg viel zu wenig aussichtsreich. Und es dachte niemand deutscher Zunge an eine völlige Unterwerfung der Franzosen oder Russen. Mit England wollte man ohnehin nicht kämpfen, es war auch viel zu mächtig dazu. Man glaubte vielmehr an eine Neutralität der Briten. Waren sie doch 1870/71 im Frankreichfeldzug auch außen vor geblieben. Man verstand nicht gut genug, dass sie dem Krieg von 70/71, der um die Gründung des Deutschen Reiches durch Preußen geführt worden war, wohl deshalb zusahen, weil Frankreich als Rivale in der Kolonialpolitik geschwächt und am Kontinent in seiner Macht beschnitten werden sollte. Ganz im Sinne der Balance of Powers und ähnlich wie die USA in neuerer Zeit gerne Irak und Iran gegeneinanderstellen, um ein solches Gleichgewicht in der Erdölregion zu erreichen. Man glaubte in Deutschland 1914 sogar, dass die Briten die Franzosen dazu bewegen würden, nicht anzugreifen, damit der Krieg im Osten lokalisiert werden kann. Denn das wollte Berlin. Es wollte sicher keinen Weltkrieg vom Zaun brechen. Diese Angelegenheit spielt in den Memoranden Steiners von 1917 eine große Rolle.
Die Intention der Memoranden an die Mitteleuropäische Staatsführung
Man sollte verstehen, dass mit Fichte und Hermann Grimm auch Rudolf Steiner ganz bestimmt eines nicht war: Ein Imperialist. Als er dann 1917 durch seine Memoranden sich an die deutsche und österreichische Führung wandte, da war es ihm also nicht zu tun um ein Erhalten mächtiger Reiche. Er wollte in letzter Sekunde erreichen, dass der deutsche, oder für heute besser ausgedrückt, der deutschsprachige Kulturraum für gewisse auf der persönlichen Ebene ablaufende Entwicklungen frei bleibe, die der Menschheit zu ihrer Entwicklung notwendig sind. Dazu sollte laut Rudolf Steiner von höchster Stelle aus klargestellt werden:
• Deutsche und Österreicher sind in einen Weltkrieg hineingeschlittert, den sie in keiner Weise herbeiführen wollten. Es war für die Mittelmächte der Intention nach ein Verteidigungskrieg. Die Mitte hatte keine Eroberungsabsichten zu Kriegsbeginn.
• Der Deutsche Durchmarsch durch Belgien ist einem fixen Generalstabsplan entsprungen, um den Krieg nicht sofort zu verlieren, indem man in die französischen Befestigungen läuft. Die politische Führung lebte in der falschen Vorstellung der Neutralität Englands und gab im entscheidenden Moment die Gestaltung der Verhältnisse an den Generalstab ab. Diese beiden Punkten lassen die Idee der Alleinschuld Deutschlands/der Mittelmächte am Krieg nicht zu. Steiner verstand nur zu gut, was die alleinige Kriegsschuld für Deutschland bedeuten und dass sie stabile Nachkriegsverhältnisse torpedieren würde. Die Alleinschuld war ihm Fiktion. Weiters:
• Mitteleuropa soll einsehen, dass es einer langfristigen Gegnerschaft des englischsprachigen Raumes gegenübersteht, denn es wird als gefährlicher Rivale erlebt. Diese Situation ist mit geeigneten und ebenso langfristig wirkenden Maßnahmen friedlicher Natur aufzulösen, eben durch Dreigliederung des Sozialen Organismus.
• Mitteleuropa soll eine Gestalt bekommen, die für andere Mächte keine Bedrohung darstellt, und die insbesondere im slawischen Raum auf Sympathie stoßen wird. Diese Gestalt darf nicht die Einheit von Wirtschaft , Staat und Kultur in einem Machtgebilde sein. Die drei Elemente des sozialen Lebens sind zu entflechten.
• Mitteleuropa ist ohne Dreigliederung des Sozialen Organismus nicht lebensfähig als unabhängiges Territorium. Die Mentalität seiner Einwohner strebt zudem unbewusst nach dieser Dreigliederung hin.
Könnt ihr Westvölker euch auf dieser Grundlage mit uns verständigen und seht ihr Ostvölker ein, dass wir nichts anderes wollen als ihr selbst, wenn ihr euch erst recht selbst versteht -, dann ist morgen der Friede möglich. So heißt es am Ende eines Memorandums.
Die erhoffte Wirkung der Memoranden auf eine neue Friedenszeit
Das hätte zur Folge, hier versuchsweise in Worten des Autors im Sinne Steiners versuchsweise formuliert, dass:
• Der Westen mit unabhängigen Wirtschaft spartnern Geschäft e macht, nicht etwa mit der Deutschen Industrie. Wirtschaft licher Erfolg wird von der Mitte Europas nicht in territorialen Einfluss umgemünzt.
• Die Romanischen Länder sich mit einem viel beweglicheren, weil ausschließlich politischen Gegenüber arrangieren. Dies tun sie, weil ihre große Blütezeit der Eroberungen (Kolonialismus, Napoleon) vorüber ist.
• Der slawische Osten eine Kooperation mit Mitteleuropa eingeht. Er braucht dies zu seiner Weiterentwicklung, besonders zum Aufb au slawischer Kultur und Zivilisation. Wenn er keine Eroberung zu fürchten hat, stellen sich friedliche Verhältnisse ein. Die Slawen wünschen, dass Mitteleuropa nicht im Materialismus versinke, sondern sich im Geist Fichtes entwickle.
Ein zukunftsorientiertes Friedensprogramm
Ein Friedensprogramm solcher Art sollte aus dem Geist der Memoranden heraus formuliert werden und ab 1917 durch die deutsche und österreichische Führung den Kontrahenten angeboten werden. Deren Zustimmung war denkbar, da 1917 ihr vollständiger Sieg noch nicht feststand und die Armeen der Entente (F,GB,RU) unter der gleichen Erschöpfung litten wie die der Mittelmächte. Die Nachkriegsordnung würde sich von Seiten der Mitte klar nichtimperialistisch darstellen. Könnt ihr Westvölker euch auf dieser Grundlage mit uns verständigen und seht ihr Ostvölker ein, dass wir nichts anderes wollen als ihr selbst, wenn ihr euch erst recht selbst versteht -, dann ist morgen der Friede möglich. So heißt es am Ende eines Memorandums.
Dann wäre Wilsons 14 Punkten die Wirkung genommen, das in ihnen enthaltene Ordnungsprinzip des Nationalismus konterkariert. Anders als Präsident Wilson sprachen die Memoranden mehr von der Befreiung des Individuums und weniger von der Völkerbefreiung. Die Oktoberrevolution in Russland würde wahrscheinlich nicht stattfinden und die USA eine Großmacht bleiben. Men denke: Kein Kommunismus im Osten, keine Supermacht im Westen! Es waren schon weitsichtige Impulse, die von Rudolf Steiner im Sommer 1917 ausgingen.