Das Schwerpunktthema dieser Ausgabe ist der Beginn eines Satzes aus dem Buch „Philosophie der Freiheit“ von Rudolf Steiner. Dieses Buch kann ein lebenslanger Begleiter werden.
Text: Wolfgang Peter
Rudolf Steiners „Philosophie der Freiheit“ ist ein merkwürdiges Buch – „merkwürdig“ im reich schattierten Sinn dieses Wortes. Liest man es zum ersten Mal, mag es einem wie viele andere Bücher philosophischen Inhalts erscheinen. Und doch ist etwas anders. Was? Man liest es nochmals und der Eindruck verstärkt sich.
Man beginnt mit dem Buch zu leben. Die „Philosophie der Freiheit“ ist kein Lesebuch, sondern ein Lebensbuch. Ich lebe seit 33 Jahren damit und es ist mir mittlerweile zu einem vertrauten und zugleich auch immer wieder rätselhaften Freund geworden, mit dem ich viele Erinnerungen teile, Erfahrungen austausche und innere Zwiesprache halte. Ein Begleiter, der immer wieder Überraschungen bereithält und mich zu neuen Fragen anregt, mein eigenes Denken belebt und reicher und klarer werden lässt und zu neuen Erkenntnissen führt.
Anfangs habe ich ganze Notizbücher mit Exzerpten vollgeschrieben, immer wieder und immer knapper werdend, bis die mir wichtig scheinenden Kernsätze klar vor meinen Augen standen wie hochaufragende Stützpfeiler, zwischen denen sich mein eigenes Denken frei entfalten konnte, ohne seine Orientierung zu verlieren. So wurde mir das Buch immer vertrauter und wuchs mir zugleich immer mehr ans Herz. Es war und ist eine Freude, darin zu leben, eine reiche Innenwelt zu entwickeln und daraus kreative Kraft zur Gestaltung des Lebens zu schöpfen – im sozialen Umgang mit den Mitmenschen, in einer Kunst, die Herzen zu ergreifen vermag, und ja, auch in einer Wissenschaft, die emotionslose nüchterne Klarheit, befreit von aller persönlichen Sympathie oder Antipathie, mit feuriger Begeisterung bruchlos vereint.
Erst durch das Fühlen gewinnen die Begriffe jenes konkrete Leben, durch die sie dem denkenden Individuum wertvoll werden. „Eine wahrhafte Individualität wird derjenige sein, der am weitesten hinaufreicht mit seinen Gefühlen in die Region des Ideellen.“
Rudolf Steiner hat selbst eine technisch-naturwissenschaftliche Ausbildung genossen, keine philosophische; letztere hat er sich vorwiegend im Selbststudium angeeignet. Die Entwicklung des modernen technisch-naturwissenschaftlichen Denkens bejahte er durchaus. Er sah aber auch, dass sich die Menschen dadurch immer mehr an das äußere Geschehen verlieren müssten, wenn kein entsprechend starkes Gegengewicht geschaffen würde. Und dieses besteht in der denkbar stärksten Vertiefung des innersten menschlichen Wesens. Dazu wollte Rudolf Steiner mit seiner Philosophie der Freiheit den Anstoß geben.
Das Buch besteht aus zwei Hauptteilen, die sich jeweils in sieben Kapitel untergliedern. „Die Wissenschaft der Freiheit“, der erste Hauptteil, stellt die Kernfrage: „Ist der Mensch in seinem Denken und Handeln ein geistig freies Wesen oder steht er unter dem Zwange einer rein naturgesetzlichen ehernen Notwendigkeit?“
Diese Frage ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts aktueller denn je. Die Gehirnforschung, die in den letzten Jahrzehnten einen großen Aufschwung genommen hat, erklärt – gestützt auf eine Fülle empirischer Belege – nicht nur die menschliche Freiheit, sondern auch das menschliche „Ich“ zu einer bloßen Illusion, die wie eine Blase aus weitestgehend unbewussten Gehirnprozessen aufsteigt, die sich im Zuge der natürlichen Evolution allmählich herausgebildet haben. Dass eine Handlung, deren wahre Gründe wir nicht durchschauen, nicht frei sein kann, ist evident. „Wie verhält es sich aber mit einer solchen, von deren Gründen gewusst wird?“ Das wirft die Frage nach dem Wesen und Wert des Denkens auf, denn ohne dieses ist keine Erkenntnis möglich, auch nicht die von den Gründen, die unser Handeln bestimmen.
Beobachtung und Denken sind die beiden Ausgangspunkte für alles bewusste menschliche Erkenntnisstreben. Ich mag ein Pferd noch so lange beobachten, der Begriff des Pferdes wird daraus nie von selbst hervorspringen, ehe ich ihn durch das Denken selbst gebildet habe. Das Bewusstsein ist der Schauplatz, wo Begriff und Beobachtung einander begegnen. Erst in ihrer Vereinigung erfasse ich die volle Wirklichkeit.
Nun liegt es in der eigentümlichen Natur des Denkens, dass wir es zwar ausführen, dieses selbst aber üblicherweise nicht beobachten, weil wir ganz an den Gegenstand hingegeben sind, über den wir nachdenken. Wir müssen gleichsam einen Ausnahmezustand herstellen, wenn wir unser eigenes Denken beobachten wollen. Jeder Mensch kann das und es ist die wichtigste Beobachtung, die er machen kann, denn nun ist das Bewusstsein in durchgängiger Klarheit ausschließlich auf die eigene geistige Tätigkeit gerichtet. Er erfasst sich als geistiges Wesen und erwacht zum eigentlichen „Bewusstsein seines Menschentums“ – das ist die wahre Bedeutung des Wortes „Anthroposophie“, mit dem Rudolf Steiner die von ihm Jahre später begründete Geisteswissenschaft bezeichnet hat.
Entgegen der landläufigen Meinung ist das Denken nicht abstrakt und inhaltsleer, sondern produziert seinen eigenen Inhalt, in dem sich aber das Wesentliche der Dinge enthüllt, die ich beobachte. Natürlich können wir dabei viele Fehler machen und Irrtümern unterliegen, ehe wir die richtigen Begriffe den Dingen entgegenhalten. Zuletzt spricht sich aber darin ihre Gesetzmäßigkeit aus. So ist das Denken zugleich ein aktiv tätiges geistiges Wahrnehmungsorgan. Dass ein geworfener Stein einer annähernd parabelförmigen Bahn folgt, erkenne ich nur, wenn ich mir den Begriff der Parabel durch das Denken gebildet haben. Durch äußere Beobachtung kann ich ihn nie gewinnen. Er ist mir durch Intuition gegenwärtig, durch ein rein geistiges Erleben eines rein geistigen Inhalts. Zurecht sagte daher der Physiker Walter Heitler: „Demnach wäre das Naturgesetz ein Urbild, eine «Idee» – im Sinne des griechischen Wortes Eidea – dem die Natur folgt und die der Mensch wahrnehmen kann. Das ist es dann, was man den Einfall nennt. Durch dieses Urbild ist der Mensch mit der Natur verbunden.“[1]
„Die Wirklichkeit der Freiheit“ wird im zweiten Hauptteil der „Philosophie der Freiheit“ behandelt, in dem Rudolf Steiner die Grundlagen eines künftigen ethischen Individualismus entwirft. Wer sich in seinem Tun nur von seinen Trieben, von Gewohnheiten oder von außen gegebenen Geboten leiten lässt, handelt nicht frei. Frei und selbstbestimmt handelt nur, wer die Gründe seines Tuns aus dem reinen Denken schöpft. Er handelt dann aus moralischer Intuition, durch die er die Gesetzmäßigkeit seines Tuns selbst bestimmt, durch moralische Phantasie der gegebenen Lebenssituation anpasst und durch eine entsprechende moralische Technik konkret umsetzt. Nichts zwingt ihn, er handelt aus Einsicht und Liebe zu dem, was er tut. Ein Missverstehen ist zwischen sittlich freien Menschen ausgeschlossen, da sie ihre individuellen sittlichen Ideale aus der allen gemeinsamen Ideenwelt schöpfen. Daraus ergibt sich die vielzitierte Grundmaxime der freien Menschen:
„Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens ist die Grundmaxime der freien Menschen.“
Wolfgang Peter ist Naturwissenschaftler, Waldorflehrer, Begründer des Odyssee-Theaters und von anthrowiki.at
[1] Walter Heitler: Naturwissenschaft ist Geisteswissenschaft, Die Waage, Zürich 1972, S. 14