Zweigleben in Österreich – Empedokles-Zweig

Die Entstehungsgeschichte des Empedokles-Zweiges weist auf eine bewegte Ver­gangenheit ab 1907 hin, als noch zur Zeit der Theosophischen Gesellschaft „Logen“ bestanden. Aus dieser Gesellschaft sonderte sich eine Gruppe von Persönlichkeiten ab, die 1913 mit Rudolf Steiner zur von ihm gegründeten Anthroposophi­schen Ge­sellschaft wechselte und die Zweig-Gründung vorbereitete. Die von Rudolf Steiner vorgebrachten Ergebnisse geisteswissen­schaftlicher Forschung erzeugten bei den späteren Gründungs­mitgliedern eine starke innere Verbindung zueinander. Aus der Festschrift* anlässlich des 50jährigen Bestehens des Zweiges – herausgegeben zu Michaeli 1999 – geht hervor, dass sich nach den von Rudolf Steiner 1910 im Wiener Ingenieur- und Architektenverein gehaltenen Vorträgen über „Makrokosmos und Mikrokosmos“ bereits eine erste Gründungsabsicht in ihnen regte.

IMG_7300Foto: Secco von Bettina Müller im Zweig-Vorraum, „Michaels Wirken in der heutigen Zeit“: Von oben kommend durchströmen Himmelskräfte den Menschen, von unten wollen die dunklen Kräfte den Menschen ergreifen – das Rosenkreuz ist Symbol des Weges.

Der Name des Empedokles – jener ebenso bedeutenden wie rätselhaften Gestalt des 5. vorchristlichen Jahrhunderts – wurde dem neuen Zweig auf Anregung und in Anwesenheit Rudolf Steiners gegeben. Diesen Namen führte der Zweig, der sein Domizil mehrere Male wechseln musste, intern bis nach dem Ersten Weltkrieg.

Als Folge des „Anschlusses“ von Österreich an das Deutsche Reich konnte die anthroposophische Arbeit nur im Untergrund gepflegt werden, da sie offiziell verboten war. Besonders ab 1941 waren die noch aktiven Kleingruppen von Haus­durchsuchungen und Verhören seitens der Gestapo bedroht. Mit Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 konnte die Arbeit mit amtlicher Genehmigung wieder aufgenommen werden und zu Michaeli 1949 kam es zur Gründung des Vereins „Anthroposophische Gesellschaft in Wien“ – die erweiterte Namensgebung „Empedokles-Zweig“ erfolgte jedoch erst vierzig Jahre später.

Seit 1956 finden die Veranstaltungen des Zweiges in 1040 Wien, Tilgner­straße 3, dem heutigen „Haus der Anthroposophie“ statt. Während vieler Jahre war der Zweig mit der „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft – Landes­gesellschaft in Österreich“ räumlich und personell vereinigt und mit dieser im zweiten Stock beheimatet.** Infolge des stark angewachsenen Arbeits­aufwands musste die Landesgesellschaft andere Büroräume beziehen, bis sie schließlich ihr heutiges Quartier im Hochparterre des Hauses aufgeschlagen hat.

2011 hat auch der Zweig seinen Standort gewechselt und ist vom zweiten in den ersten Stock übersiedelt. Zu Ehren Rudolf Steiners wurde aus dem neuen Zweig-Saal der „Rudolf-Steiner-Saal“, welcher in seiner Gestaltung auch den Klassenstunden der Freien Hochschule eine weihevolle Umgebung bietet.

IMG_7303Foto: Der „Rudolf-Steiner-Saal“, gestaltet von Christian Hitsch

Derzeit gehören fast 100 Mitglieder dem Zweig an. Aber so wie die Entwicklung jedes Einzelmenschen in einem Auf und Ab vor sich geht, so ist das Bestehen unseres Zweiges in einem ständigen Wandel begriffen. Es gehören ihm weit mehr Mitglieder an, als statutenmäßig erfasst sind. Da sind zunächst diejenigen, die am Zweig-Geschehen von der geistigen Welt aus Anteil nehmen – unsere verstorbenen Mitglieder –, dann solche, die aus Alters-, gesund­heitlichen oder anderen Gründen nicht persönlich anwesend sein können, von denen wir uns aber gedanklich unter­stützt fühlen, und schließlich jene, welche die gemeinsame Arbeit mit folgendem Ablauf tätig fort­setzen:

An jedem Mittwoch-Abend von 19.30 bis 21.00 Uhr kommen zwischen 30 bis 40 Mitglieder und Gäste zum Teil auch aus anderen Zweigen zu unseren Zusammen­künften und beteiligen sich an der Zweigarbeit. Seit mehr als sieben Jahren – bis Ende 2017 – haben wir uns intensiv mit den Ausführungen Rudolf Steiners zum Thema „Reinkarnation und Karma“ beschäftigt. Im Sinne der Anleitungen Rudolf Steiners, die er gerade für den Umgang mit seinen Vorträgen zu diesem Kernthema der Anthroposophie aus­drücklich betont hat, bemühen wir uns nicht nur konzentriert um gründliche Text-Erarbeitung und um das Verstehen der Inhalte, sondern wir pflegen auch den Gedankenaustausch über aktuelle Menschheitsfragen. Mit dem jeweiligen Wochenspruch aus dem Seelenkalender wird jeder Zweigabend eingeleitet, um mit ihm am Ende wieder abgeschlossen zu werden. Davor und danach bespricht der Vorstand in kleinem Kreis nicht nur wissenschaftliche Arbeits­vorhaben, sondern es werden auch organisatorische Fragen erörtert, wobei die Mitglieder in die Abwicklung beider Bereiche einge­bunden werden.

Derzeit bilden die von Rudolf Steiner selbst redaktionell bear­beiteten Vorträge von 1911: „Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit“ (GA 15) den Themenschwerpunkt unserer Arbeit.

Die Tradition, erfahrene Geisteswissenschaftler aus anderen Gegenden und anthroposophischen Einrichtungen als Gast-Vortragende einzuladen, wird vom Zweig fortgesetzt, da dies in allen Lebensfragen unser Erkenntnis-Bemühen unterstützt und wechsel­seitig zu wertvollen Impulsen führt.

Entsprechend dem dringenden Appell Rudolf Steiners ist auch unsere Zweig-Gemeinschaft ernsthaft bemüht, den vielen zerstören­den Kräften auf der Erde geistige Kräfte entgegenzusetzen. In diesem Sinn versuchen wir, darauf zu achten, wie das jedem Einzelnen innewohnende Unterschiedliche zu einer strahlenden und klingen­den Einheit verbunden werden kann. Geleitet werden wir dabei vom Ideal der Spiritualisierung des ins Irdische herabgesunkenen Denkens, wie es uns die Michael-Briefe (GA 26) lehren.

Das umfangreiche Schrift- und Vortragswerk Rudolf Steiners steht Mitgliedern und Gästen in der neben dem Saal befindlichen Biblio­thek zur Verfügung. Sie ist Mittwoch von 18.00 bis 19.30 Uhr geöffnet.

Besonders verbunden fühlt sich der Zweig mit der „Schule für Eurythmie“. Sie befindet sich im selben Haus in der Tilgnerstraße und ihre Veranstaltungen zu den Jahresfesten ergänzen die gemeinsamen Wiener Zweig-Feierlichkeiten künstlerisch. Der sich dabei zwischen Mitwirkenden und Auditorium vollziehende schöpferische Akt wird als belebend und fruchtbar empfunden.

*       Von der Festschrift, in der die Geschichte des Empedokles-Zweiges ausführlich dargestellt ist, gibt es noch Rest-Exemplare zu erwerben.

**    Einige Einzelheiten darüber enthält das im 30. „Wegweiser“-Heft vom Sommer 2017, Seite 28 gedruckte Interview mit Dr. Johannes Zwiauer: „Seine Liebe zur Anthroposophie“

Permalink