Wollen oder müssen

Kein Mensch muss müssen, sagt der Jude Nathan zum Derwisch, und dieses Wort ist in einem weitern Umfange wahr, als man demselben vielleicht einräumen möchte. Der Wille ist der Geschlechtscharakter des Menschen, … Alle andern Dinge müssen; der Mensch ist das Wesen, welches will.

Friedrich Schiller, Über das Erhabene ¹

Text und Foto: Norbert Liszt

Schiller führt uns in diesem Essay vor Augen, dass wir Menschen aus freiem Entschluss handeln können. Wir können es deshalb, weil das Allgemein-Menschliche, das Erhabene, in jedem Menschen veranlagt ist. Doch, unter welchen Umständen können wir das? Wir wissen, es gibt viele Verpflichtungen, die uns zum Handeln veranlassen. Der Alltag fordert von uns, dass wir dieses und jenes tun. Getriebenheit scheint uns zu bestimmen. Wir haben allerdings immer die Möglichkeit, diesen Anforderungen nicht zu folgen. Wenn uns jemand etwas aufträgt zu tun, können wir zustimmen oder ablehnen. Selbst unter Androhung von Gewalt sind wir fähig, uns gegen eine äußere Bestimmung zu wehren. Ja, wir können uns sogar gegen unsere eigenen Triebe, Begierden und andere innere Einflüsse entscheiden.

Wenn ich das alles bedenke, stellt sich mir die Frage: Was ermächtigt uns, aus freiem Willen zu handeln? Wir müssen zwar nicht, aber wenn unser Wille sich regt und der Entschluss gefasst ist, müssen wir diesem Willen folgen.

Der Wille und seine Bestimmer

Wie finden wir zu dem Erhabenen, dem sich der Wille gerne verpflichtet? Angenommen es regt sich in uns ein Begehren, zum Beispiel der Appetit auf Schokolade. Die Vorstellung seiner Befriedigung wird zum Motiv meiner Handlung. Doch meine seelische Gestimmtheit (mein Charakter, mein Temperament …) und meine Vernunftgründe werden mitbestimmen, ob das Motiv stark genug ist, mein Begehren zu befriedigen.

Unsere Motive entspringen unterschiedlichen Impulsen. Edle und unedle Gründe bestimmen unser Handeln. Triebe, Begierden, Leidenschaften, berechnender Verstand wechseln ab mit liebendem Interesse, Vernunftgründen, sittlichem Empfinden u.a. Wenn wir das bedenken, wird uns bewusst, wie schwer es ist, zu beurteilen, aus welchen Antrieben wir handeln. Können wir überhaupt wissen, was die bestimmenden Motive unseres Handelns sind? Will ich wirklich tun, was ich tue oder muss ich es tun? Bin ich der Bestimmende oder bestimmt mich etwas anderes?

Es kann sein, dass ich darüber wenig weiß, aber ich hab die Möglichkeit, mehr davon zu erfahren. Der Weg zur freien Tat führt über das Erkennen. Nur dann ist mein Handeln frei, wenn ich von den Beweggründen weiß und wenn meine innere Gestimmtheit der Ausführung nicht entgegensteht. Meine ästhetisch-moralische Verfassung, Klarheit des Denkens, Tiefe des Fühlens und Energie des Willens, ermöglicht meine Freiheit („Wahre Pflicht ist, wo man liebt, was man sich selbst befiehlt!“ J.W. von Goethe²).

Wir können also tun und lassen, was wir wollen und können uns selber Regeln geben. Unsere Willensmacht ist groß. Sie erlaubt uns, einerseits die größten Wohltäter und gleichzeitig die größte Gefahr für Mensch und Welt zu sein. Heiliger oder schlimmster Übeltäter – dieses Spannungsfeld umfasst das Menschsein. Wie lässt sich Freiheit leben, wenn uns anderes Wollen entgegentritt, wie entscheide ich, ob ich mich diesem Wollen anschließe oder nicht? Ist es besser nichts zu tun, bevor man das Falsche tut?

Die Behauptung des Eigenwillens im sozialen Miteinander ist ein schwieriges Übungsfeld. Sind Selbstheit und Selbstlosigkeit vereinbar? Fragen an das Pflichtgefühl, wie es Goethe meinte, im Sinne von „für etwas einstehen“, können sehr quälend sein. Man kann diese Qual umgehen und den bequemen Weg wählen. Schiller gibt ein Beispiel in „Wallensteins Tod“: Wo viel Freiheit, ist viel Irrtum, doch sicher ist der schmale Weg der Pflicht³. Das eine Verständnis von Pflicht ist, sich selbst zu etwas zu verpflichten – seiner menschlichen Würde folgen, mit dem Risiko, sich zu irren. Das andere: den schmalen, einfachen Weg wählen und ohne inneres Engagement nach Vorschrift und Anweisung handeln.

Organismus – ein Gleichnis

Ich möchte diesbezüglich den Blick auf ein Gebiet lenken, in dem es ein funktionierendes Miteinander gibt – auf unseren Körper. Wäre die Leber ein intelligentes Wesen, würde sie folgendes über sich sagen: Ich erkenne und empfinde mich als Teil eines Organismus. Dieser Organismus bildet eine geschlossen Ganzheit. Ohne mich würde ihm etwas fehlen, er wäre keine Ganzheit mehr. Ich bin eine Stoffwechselspezialistin und stelle meine Fähigkeiten und Handlungen in den Dienst des Gesamtorganismus. Dabei muss ich darauf achten, was meine Mitorgane für Bedürfnisse haben und mich fragen, wie ich helfen kann, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Ich muss erspüren, welche Funktionen sie erfüllen und muss mich mit ihnen abstimmen, so dass wir bestmöglich für das Funktionieren unserer gemeinsamen Sache sorgen. Ich darf aber erwarten, dass die Gemeinschaft der Organe auch für mein persönliches Wohl sorgt, denn nur wenn ich gesund und leistungsfähig bin, kann ich dem Organismus so dienen, wie er es erfordert. Mein „Lebersein“ macht nur Sinn, durch die Verbundenheit mit dem Gesamtorganismus und wenn trotz meiner speziellen Eigenschaften auch die Gesetzmäßigkeiten des Gesamtorganismus in mir leben.

Der Organismus, dem ich diene, ist ein Mikrokosmos, der vielfältige und mitunter sehr spezielle Aufgaben zu bewältigen hat. Auch bleibt er nicht ewig so wie er jetzt ist. Er durchläuft Entwicklungsphasen und ich muss mich auf die Veränderungen einstellen. Ich will erspüren und verstehen, was diese Veränderungen von mir fordern und wie ich mich darauf einstellen kann. Ich selbst will mich üben, mit wandelnden Verhältnissen umzugehen, damit ich ihn bei seinem Entwicklungsgang unterstützen kann.

Menschheit – ein großer Organismus?

Aus diesem Gleichnis wird ersichtlich, wie sich ein einzelnes Organ selbstbestimmt und zugleich selbstlos in den Dienst einer größeren Sache stellt. Wir können versuchen, uns die Menschheit als einen großen Organismus vorzustellen. Als einzelne Menschen bilden wir zusammen eine Ganzheit, was im Begriff „Menschheit“ zum Ausdruck kommt. Urbildhaft lebt in jedem Menschen die ganze Menschheit. Jeder Einzelne hat darinnen seinen Platz. Ohne ihn würde etwas fehlen. Somit ist aber auch jeder Einzelne ein funktionierendes Glied in diesem sozialen Organismus. Als solches kann er etwas beitragen für dessen Gesundsein, er kann allerdings auch Krankheitsprozesse auslösen.

Die heutigen Verhältnisse machen es uns nicht leicht. Eine einträchtige Sicht darauf, was dem Weltgeschehen und dem Menschheitsfortschritt dienlich ist, gibt es nicht. Im Gegenteil, die Welt erscheint fragmentiert. Eine Zusammenschau scheint unmöglich zu sein. Ohnmächtig stehen wir vor den sich immer mehr gliedernden Einzelerscheinungen und sich ständig ändernden Verhältnissen. Einen Schritt der Befreiung aus dieser Ohnmacht sieht Schiller in dem Blick auf das Erhabene in uns: „… kaum entdeckt der Mensch in dieser Flut von Erscheinungen etwas Bleibendes in seinem eigenen Wesen, so fangen die wilden Naturmassen um ihn herum an, eine ganz andere Sprache zu seinem Herzen zu reden; und das relativ Große außer ihm ist der Spiegel, worin er das absolut Große in ihm selbst erblickt.¹“

Die Verfassung und der Fortschritt des Menschheits-Organismus werden davon abhängen, ob wir ein Bewusstsein haben von den Prinzipien (das Bleibende in seinem Wesen), die ihn prägen und seiner Entwicklung förderlich sind und die urbildhaft in jedem Einzelnen leben. Entscheidend wird sein, ob wir auch bereit sind, unser Bewusstsein in dieser Hinsicht auszubilden. Immerwährendes Bemühen um Selbst- und Welterkenntnis und Entschlossenheit nach dieser Erkenntnis zu handeln, sind Bedingungen, die uns im schillerschen Sinne ermöglichen, nicht zu müssen, sondern zu wollen.

Quellen:

¹  F. Schiller, Über das Erhabene, Essay in dem Band Kleinere

prosaische Schriften

²  J.W. Goethe, Maximen und Reflexionen

³  F. Schiller, Wallensteins Tod, IV, 2

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